Ein Koffer voll Karma für das nächste Leben

Die Reinkarnationstheorie ist ein Streitfall (nicht nur) zwischen Anthroposophen und christlichen Theologen  ■   Von Katharina Körting

Als Kind war für mich die Sache klar: Der tote Körper zerfällt, der Staub mischt sich mit der Erde, eine Katze kommt und leckt daran – und dann bin ich in der Katze und lebe in ihr weiter, irgendwie. Mir erschien das nicht nur tröstlich, sondern auch logisch. Was nach dem Tod aus dem Leben wird, ob überhaupt etwas wird oder alles mühsam errungene Bewusstsein ins unbegreifliche Nichts verpufft – das hat nicht nur Kinder wohl zu allen Zeiten beschäftigt.

Für die Anthroposophen ist der Mensch zuallererst Geist und hat nur ein vorübergehendes Zuhause im sterblichen Körper. Stirbt diese Hülle, sucht er sich eben eine andere. Viele Religionen hängen dieser Vorstellung einer Seelenwanderung nach. Für die Anthroposophen ist sie eine Wissenschaft.

„Die Reinkarnationstheorie gehört zum Kern der Anthroposophie“, sagt Martin Barkhoff, Medienbeauftragter der Anthroposophischen Gesellschaft. „Es wäre doch wünschenswert, wenn die in einem Leben angefangene Arbeit im anderen weitergeht, wenn das Leben nicht so eine große, unnütze Qual wäre.“ Wünschenswert vielleicht, doch wo ist der Beweis? „Um einen Beweis geht es nicht“, wehrt Barkhoff ab. Worum dann? „Um ein Leben in der Erkenntnis.“

Die Anthroposophen gehen, anders als zum Beispiel die Buddhisten, davon aus, dass menschliches Leben nur in anderen Menschen wiedergeboren wird, nicht in Tieren oder Pflanzen. Manch einer meint auch, sich an frühere Leben zu erinnern. Ein Bereich, in dem Übersinnliches nahtlos in Unseriöses übergeht, was immer wieder zu Kontroversen führt: Als zum Beispiel die Schwedin Barbro Karlén behauptete, in einem früheren Leben Anne Frank gewesen zu sein, wurde dies von Teilen der anthroposophischen Szene mit großer Ernsthaftigkeit diskutiert, während andere – wie Martin Barkhoff – zumindest Skepsis für angebracht hielten.

Konsens ist hingegen, dass es den Tod als Ende einer Existenz nicht gibt. „Der Tod ist nichts anderes als die Pforte in höhere Welten“, schreibt der Anthroposoph Ernst Lutterbeck. Nach dem Sterben ist der Mensch demnach zwar zunächst körperlos, aber er lebt, und zwar „in unendlicher Befreiung“. Dieses „Panorama-Erlebnis“ dauert „etwa drei Tage“. Danach löst der Körper sich auf, doch ein Extrakt bleibt erhalten, die konzentrierte Erinnerung dessen, was der Mensch bis dahin erlebt hat. Lutterbeck nennt diese Essenz „das karmische Gepäck“, das in das neue Leben hineinwirkt. Der Koffer voll Karma wird von einer Inkarnation zur nächsten getragen.

Das Wort Karma kommt aus dem Sanskrit und bedeutet„Tat“ oder „Werk“ – die Summe der positiven und negativen Taten. Nach Lutterbeck tritt der Tod nie zufällig ein, sondern erst dann, „wenn das jedem Menschen eigene Karma es fordert“.

Alles Humbug? „Das Problem bei solcherlei Todestheorien ist, dass sie weder widerlegt noch bewiesen werden können“, sagt Matthias Pöhlmann von der Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der evangelischen Kirche — ein Dilemma, vor dem die Kirche nicht steht, weil sie ausdrücklich auf Glauben beruht, während die Anthroposophie sich als Geisteswissenschaft begreift.

Rief die Vorstellung der Wiedergeburt zu Beginn dieses Jahrhunderts in Europa eher Lächeln hervor, findet sie heute, verstärkt durch den boomenden Esoterikmarkt, immer mehr Anhänger. Und auch die Wissenschaft wagt sich recht weit auf diesem Terrain vor. Einiges Aufsehen erregte zum Beispiel der US-Amerikaner Jan Stevenson, der vor allem bei Kindern Erlebnisse untersucht, für die Reinkarnation eine mögliche Erklärung sein könnte.

Nach anthroposophischer Auffassung ist der Mensch aus Geistigem hervorgegangen. Die immer neuen Verkörperungen dieses Geistigen sind nur Zwischenstufen auf dem Weg der Vervollkommnung und Läuterung, bis er schließlich sein göttliches Ziel erreicht: Er wird Engel. „Dem liegt ein für den Beginn dieses Jahrhunderts typischer Fortschrittsoptimismus zugrunde, der Göttliches auf menschliche Kategorien reduziert“, kritisiert Pöhlmann aus christlich-kirchlicher Sicht.

Für die Anthroposophen gibt es pro Individuum nicht unendlich viele Reinkarnationen, sondern zwischen drei und 60, im Schnitt sind es 30. „Aber man muss sehr vorsichtig sein“, warnt Valentin Wember, Waldorf-Lehrer in Stuttgart und Leiter von Reinkarnationsseminaren. „Ich hatte Erlebnisse, die so aussahen wie Rückerinnerung, aber wer weiß, was mich da an der Nase herumführt. Vielleicht war es auch ein Traum im Wachbewusstsein oder eine Halluzination.“

Die Kirche steht dem Gedanken der Wiederverkörperung sehr kritisch gegenüber. Nicht nur die Seele, sondern auch der Leib wird, hoffen jedenfalls die Christen, von Gott zum Leben wiedererweckt. Die Anthroposophen hingegen sehen einen im Menschen angelegten göttlichen Kern, der ihm Unsterblichkeit garantiert. Das dahinterstehende Menschenbild ist für Matthias Pöhlmann „problematisch“: „Es ist Gott, der uns auch im Tod nicht allein lässt, nicht der Mensch.“ Zwar habe die Reinkarnationstheorie zweifellos viele Vorteile, weil sie jedem die Chance zuerkennt, die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu finden. Aber ob die Aussicht auf ständige Wiederkehr in diese Welt so tröstlich ist, bezweifelt der Theologe denn doch. Auch die zugrunde liegende esoterische Weltanschauung widerspreche der Bibel: „Den Anthroposophen geht es um ein Wissen, das nicht jedem zugänglich ist“, sagt Pöhlmann, „das Evangelium dagegen richtet sich an jeden.“ Vom dem „Versuch, hinter die Rätsel des Schicksals zu schauen“, rät Pöhlmann ab: „Statt darüber zu spekulieren, was in früheren Leben war, sollte man auf Gott vertrauen und sich aktiv für andere Menschen einsetzen.“

Solch einen Widerspruch sieht Martin Barkhoff allerdings nicht: „Niemand wird durch die Reinkarnationstheorie der Verantwortung für sein Leben enthoben“, mit Fatalismus habe sie nichts zu tun, sondern schlicht mit „Empirie“, mit der Erfahrung einer anderen, weder sinnlichen noch körperlichen Welt. Das könne man erleben. „Klar ist das subjektiv“, räumt er ein, „aber es ist so subjektiv wie Mathematik.“

Es handle sich keineswegs, wie Pöhlmann meint, um eine Glaubensfrage. Das Nachdenken über Reinkarnation hat für Barkhoff vielmehr das Ziel, ein „Leben in der Erkenntnis zu führen“, während die Kirche ein Leben im Glauben fordert. Freilich sieht auch er die Gefahr, sich statt mit Erkenntnissen mit Phrasen zufrieden zu geben, „mit ein paar schönen, fanatischen Kalendersprüchen, und dann hat man's“.