: Ekstasetechnik und Sozialversicherung
■ „Spiel's modal, Sam“: nach dem Konzert von Pharoah Sanders in der Fabrik
Ein grauer Morgendunst liegt über dem Asphalt von Harlem. Müde schleppt sich ein alter, schwarzer Penner aus einer heruntergekommenen Kellerspelunke. Einst war in ihr ein ziemlich hipper Jazzclub untergebracht. „Lower Egypt“ oder so ähnlich muß er geheißen haben. Die Schrift am Eingang lässt sich nur sehr schwer entziffern, genau wie das verblichene Plakat an der Tür. Von einem ominösen Ort namens Attica ist da in roten, schwarzen und grünen Lettern die Rede. Und noch heute kann man drinnen auf der Bühne die Löcher bestaunen, die Elvin, der Hausschlagzeuger, dort hinterlassen hat.
Am Straßenrand hält ein Taxi aus Newark. Ein genauso alter Afroamerikaner in gutem Tuch und Nike-Sneakern der neueren Bauart steigt aus. Verdutzt blicken sie sich auf die Bärte. „Hum-Allah, alte Socke! Leon, du hier?! Where have you been all die Jahre.“
Ungläubig und müde schaut der Penner auf den Fragenden. „Fu-cking hell! Ich trau' meinen Augen nicht! Allah sei mir gnädig! Pharoah! Das muss ja Ewigkeiten her sein – wir beide, weißt du noch?“
„Klar, mit Idris, Lonnie, Liston und Smith haben wir damals gerockt wie die Beatles in Hamburg. Aber wie geht's dir eigentlich?“
„Ey, just great. Ich hab' jetzt wieder 'nen Job. Montags sing' ich im 'Naked Nubian Princess', dem alten 'Egypt'. Terry, der neue Besitzer, hat da jetzt 'ne Topless Bar mit Live-Musik eingerichtet. Und morgens putze ich im Crackhaus unten in der Straße. Das reicht für mein Zimmer und einmal Kentucky Fried in der Woche. Irgendwie kommt man ja immer über die Runden.“
„Da sagste was,“ fällt ihm Sanders ins Wort und zwirbelt sich nachdenklich die grauen Barthaare. „Aber Terry who? Old folks haben es heutzutage nicht leicht. Die haben uns reingelegt. Clinton spielt zwar ab und zu Saxophon, aber...“
„Clinton?!“, Leon Thomas zeigt zum ersten Mal so etwas wie Leben hinter seinen traurigen Augenlidern. „Clinton?! Alter Bastard, du verarschst mich.“ Seine Worte überschlagen sich. „Die alte Funksau verdient sich doch an seinen Samplingtantiemen dumm und dusselig. Davon kann unsereins doch nur träumen. Ich hab' bisher keinen Dime gesehen...“
„Bill, Leon, Bill, nicht George Clinton. Aber mit den Benjamins hast du definitiv recht. Ich komme gerade aus Europa. Da sind die total verrückt nach mir, klatschen sogar mit. Vor ausverkauftem Haus kann ich spielen, was ich will, modal oder free, mal einen alten Hit oder was von Coltrane. Die stehen einfach auf meinen schmusigen Sound. Das ist der Unterschied zu früher. Hör mir auf mit LeRoi Jones und den Kamellen. Ich bin jetzt Pop. Mit den Höhen ist es natürlich etwas schwieriger geworden. Die Lungen, du ahnst es. Aber die jungen Cats aus meiner Band bügeln das mit ihren Soli aus. Und weißt du was: It's a way to make a living. Fast so gut wie eine staatliche Rentenkasse.“
„Right on! Aber wem sagst Du das.“
Tobias Nagl
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