■ Schnittplatz: Rätselhafte Tagesspiegeleien
Ein Opern schmetternder Zeitungsverkäufer geht nächtens um in Berlin, der mit „Don Giovanni“ selbst den steinernsten Tischgast erweichen und den „Tagesspiegel von morgen“ zum Objekt der Begierde werden lässt. Der Mann ist ein Verkaufsgenie, zweifellos ein Gewinn für den Leumund und die Auflagenzahlen des Organs.
Doch wo immer derzeit der Tagesspiegel mittels Printwerbung erobern will, wird sich manch Umworbener verschämt abwenden, hat's womöglich bald richtig satt und mag kein Blatt mehr. Zumindest nicht dieses, das am unteren Rand der ganzseitigen Anzeige als altbekannter, leicht abgegriffener Zeitungswickel prangt. Dabei leuchtet in echt doch längst jugendlich-rötlich-fleischlich, was einst zu vergilben drohte. Um diesen Tatbestand zu bebildern, hat die Agentur Huth & Wenzel überdies eine reizvolle Tagesspiegel-Leserin in einen Firmenfahrstuhl gestellt. Ein herber Typ, ein forscher Blick. Ein rätselhaftes Lächeln. „Ich nehme nie ein Blatt vor den Mund. Und wenn, dann das richtige“, gesteht das junge Ding selbstbewusst.
Rückübersetzt heißt das wohl „Kein Blatt vorm Mund ist richtig gut, auch wenn man es nie lesen tut“. Lesen ist also nicht das Thema. Vielleicht hat ja statt dessen dieser eigentümliche Zug um ihren Mundwinkel einen Sinn. Vielleicht vermittelt er eine andere, wichtigere Botschaft? „Ich nehme nie eine idiomatische Redewendung in den Mund. Und wenn, dann die falsche“ zum Beispiel. Und trotzdem befördert sie der Paternoster durch den Karriereschacht bis in den fünften Stock ihres Bürohauses. Toll!
Vielleicht kündet das mysteriöse Mienenspiel aber auch nur von aufsteigender Fahrstuhl-Übelkeit und der mulmigen Gewissheit, nicht einmal in dieser peinlichen Situation ein Blatt vor den Mund nehmen zu können. Und wenn doch, dann den Tagesspiegel? Mit einem Wisch ist alles weg? Ein Schicksal, wie's schlussendlich auch den Don Giovanni ereilt? Wollen wir's doch nicht hoffen.
Monie Schmalz
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