Pokern mit hohem Einsatz

Trotz wirtschaftlicher Talfahrt hat Kutschma, Präsident der Ukraine, gute Chancen auf Wiederwahl  ■   Aus Kiew Barbara Kerneck

Ausgerechnet auf der sonnigen Halbinsel Krim rückte der ukrainische Präsident Leonid Kutschma mit der Wahrheit heraus: Mit über elf Milliarden Dollar stehe das Land im Ausland in der Kreide. „Wenn uns niemand hilft“, sagte Kutschma seinen Anhängern auf einer Wahlkundgebung, „sind wir nächstes Jahr zahlungsunfähig.“

So weit wird es natürlich nur kommen, falls die Ukrainer bei den morgigen Präsidentschaftswahlen einen anderen als Amtsinhaber Kutschma, 61, wählen sollten. Denn der frühere Raketeningenieur weiss wie kein anderer, wie man Devisen beschafft.

Seit Jahren versteht es Kutschma, den Westen mit dem Katastrophenreaktor von Tschernobyl zu erpressen. 1997 versprach die Gruppe der sieben führenden Industrienationen (G 7) die sukzessive Freigabe einiger Millionen Dollar, um die Stilllegung des gesamten Kraftwerks bis 2000 zu sichern. Inzwischen verlangt Kutschma eine stolze Milliarde plus 800 Millionen Dollar. Dafür verspricht er, auch den so genannten Sarkophag zu sichern, den brüchig gewordenen Betonmantel um die strahlende Reste des explodierten vierten Reaktorblocks.

Ein gut Teil des geforderten Geldes soll herhalten, um Ersatz für die Atomenergie zu schaffen, die der Ukraine nach der Tschernobyl-Schließung angeblich fehlen wird. Zwei 1990 im Bau gestoppte Atomkraftwerke in Rowno und Chmelnitzki sollen nun doch noch ihr Richtfest erleben.

Experten der Europäischen Bank für Rekonstruktion und Entwicklung kamen aber zu dem Schluss, dass die Ukraine diese AKWs gar nicht brauche, weil sie mehr als genug Energie produziere. Seitdem führt Kutschma einen Kleinkrieg gegen die G 7. Wie ein Kamikaze lässt er den einzigen halbwegs funktionsfähigen, dritten Reaktorblock mal an-, mal abschalten. Am 15. Oktober hat die Tschernobyl-Komission der ukrainischen Regierung beschlossen, dass der dritte Block auch im nächsten Sommer noch arbeiten soll. Begründung: „Es ist noch genug Treibstoff vorhanden.“

Heute hat Kutschma keine Mühe, eins seiner Versprechen zu brechen: nicht wieder zu kandidieren, falls sich die ökonomische Lage bis zu den Wahlen nicht gebessert habe. Seither ist die Produktivität der Industrie weiter gesunken. Der Durchschnittsukrainer kann sich für seinen Monatslohn dreimal weniger Waren kaufen als sein russischer Vetter.

Das einzige, was sich gebessert hat, sind Kutschmas Aussichten auf einen Sieg über die Opposition. Sein stärkster Rivale, Ex-Premier Pawel Lasarenko, sitzt in einem US-Gefängnis in Auslieferungshaft. Sowohl in der Schweiz als auch in der Ukraine laufen gegen ihn Verfahren wegen illegaler Finanzgeschäfte.

Vier Konkurrenten um die Präsidentschaft aus dem liberalen bis sozialdemokratischen Lager, darunter ein ehemaliger Premier, ein ehemaliger und der amtierende Parlamentssprecher, gelobten in einem Schwur in der Stadt Kanew zusammenzuhalten, um Kutschma nie wieder an die Macht zu lassen. Diejenigen unter den vier, deren Anhängerschaft sich als schwächer erwies, sollten ihre Kandidatur kurz vor der Wahl zugunsten des Stärksten zurückziehen. Wie zu erwarten, hat sich das so genannte Kanewer Quartett diese Woche hoffnungslos zerstritten.

Kutschma kann sich nun als einzige Alternative gegen die rote Gefahr aufspielen. Auf der extremen Linken hat sich eine neue Partei häuslich niedergelassen: die Progressiven Sozialisten. Mit dem Gewicht ihrer Kandidatin Natalia Witrenko (48), der einzigen Frau unter den Kandidaten, drohen sie die ukrainischen Kommunisten zu zermalmen. Mit Betonfrisur, apoplektischer Gesichtsrötung und Lidschatten, deren Blau mit der gleichen Farbe ihrer Emaille-Ohrringe um die Wette schimmert, fordert die einstige Marxismus-Leninismus-Dozentin, alle heute in der Rada vertretenen Politiker für ihre Korruptheit zu bestrafen.

Vor drei Wochen warfen zwei Männer bei einer Wahlveranstaltung Handgranaten auf Natalia Witrenko. 33 Menschen wurden verletzt, auch sie selbst. Das hat ihr Auftrieb gegeben. Obwohl oder gerade, weil viele UkrainerInnen sie für fähig hielten, den Anschlag selbst inszeniert zu haben.

Das Nudelholz schimmert der Witrenko förmlich durch das Handtaschenleder, wenn sie ihr Patentrezept verrät: ein Drittel der Bürger in die ukrainischen Uranminen verschickt, ein Drittel darf in der Produktion arbeiten und ein Drittel als proslawische Söldner in Tschetschenien und Jugoslawien dienen. Wegen ihrer antiwestlichen Tiraden bezeichnen die Ukrainer sie – in Anklang an ihren russischen Radaubruder – auch als „Schirinowski im Rock“. Wenn der Präsident für sein Land neue Atomkraftwerke fordert, so verlangt Witrenko auch noch die Atomwaffen zurück, von denen die Ukraine heute frei ist. Insider flüsstern, Witrenko sei in Wahrheit Kutschmas Lieblingsgegnerin. Er habe sie engagiert, um in einem zweiten Wahlgang gegen eine zersplitterte Linke zu siegen.