■ 10 Jahre Mauerfall (1). Im Herbst 89 entdeckte das DDR-Volk, dass die Oberen in Saus und Braus lebten. So viel Sozialneid war nie: Neidisch? Gerecht? Beides
Wenn das Wort „Sozialneid“ fällt, werde ich nervös. Ich kann damit nichts anfangen. Ist es eine Erfindung von Guido Westerwelle? Und wenn, hat es vielleicht trotzdem eine Bedeutung? Bezeichnet es eine niedrige Obsession oder den Schlüssel zu – noch so ein kryptischer Terminus – „sozialer Gerechtigkeit“?
Vor anderthalb Jahren schrieb ich einen etwas bösartigen Text über Reinhold Beckmanns Millionenvertrag mit der ARD und behauptete, dass für sein Monatsgehalt nur etwa 6.637 Bauarbeiter ihre Fernsehgebühren zusammenlegen müssten. Hinterher bemerkte jemand, das muffele „irgendwie nach Sozialneid“. Ich schluckte. Zwar hat sich mittlerweile herausgestellt, dass Beckmann für das viele Geld noch weniger kann, als weiland abzusehen war. Aber ich fürchte nach wie vor, die Spielregeln nicht richtig verstanden zu haben. Wahrscheinlich muss ein Ostler so denken. Die Umfragen sagen, von den großen Revolutionsidealen Liberté, Égalité, Fraternité bevorzuge man im Westen das Erstere, bei uns in der Zone eben das Andere; und mit der Brüderlichkeit hätten es alle miteinander nicht mehr so. Der Ostdeutsche könne sich über Ungleichheiten mehr aufregen, als er bereit sei, sich von grenzenloser Freiheit euphorisieren zu lassen. 1989 mag das anders ausgesehen haben. Aber im Prinzip war es genau so.
Damals, im Herbst, war ich gerade Bob Woodward, für ein paar Wochen. Mein Kollege Osang gab den Carl Bernstein. Wir schlichen um dichte Hecken und schmulten durch Kellerfenster. Wenn wir Jagdglück hatten, erblickten wir dahinter ein paar Dekorfliesen, die uns protzig vorkamen. Über den Sohn eines Politbüromitglieds war uns zugetragen worden, der hätte im Badezimmer „sogar Grohe-Armaturen“. Das klang nach einer Mischbatterie aus purem Gold. Wir hatten zu Hause undichte Brauseschläuche aus grauem Plastik. Sie waren also gleicher als wir.
Selbst wir DDR-Journalisten, die wir bisher brav ihre Märchen nacherzählt hatten, durften uns auf einmal viel anständiger fühlen als sie. Wir schrieben uns sauber, nein, rein. „Privilegien“, „Sonderbauten“, „Amtsmissbrauch“ – so hießen sie, die Codes unserer unverhofften moralischen Überlegenheit. Ich weiß nicht, ob wir sozialneidisch waren. Ich weiß ja nicht mal, was das ist. Wir waren einfach schwer empört, ehrlich.
Eine Quick-Reporterin fabulierte, wir gingen „wie die Watergate-Journalisten“ „allein gegen die Bonzen“ vor. Nett gemeint. Wir waren die allerhinterletzte Nachhut, Vollzugsbeamte von um die hundert Anrufern pro Tag. Wir hätten sogar das Kreuzworträtsel aus dem Blatt schmeißen können, um der Welt mitzuteilen, dass Frau Schulze aus dem ersten Stock einen Verdacht hatte, auf welch perfide Weise ihr Nachbar („Hörn Se, der hat Parteihochschule jemacht!“) zu seinem Parkettfußboden gekommen sein könnte. Um jemand in der DDR anzuschwärzen, brauchte man nur zu kolportieren, er hätte drei Autos. „Der will was Besseres sein“, galt als Beschimpfung und ein gewiefter Geschäftsmann immer auch als Betrüger. Die Einkommensdifferenzen waren marginal. Ein Kombinatsdirektor verdiente sechsmal so viel wie sein preisgünstigster Angestellter und womöglich weniger als ein privater Maurermeister. Ja, Herr Schrempp, so war das.
„Von oben“ wurden so viele Versprechungen gemacht, dass jeder seine Lüge abbekam: „Was des Volkes Hände schaffen, ist des Volkes eigen.“ – „Ich leiste was. Also leiste ich mir was.“ Das wurde nicht unbedingt geglaubt, aber man konnte sich darauf berufen. Besonders hinterher. Es ist kuschelig in einer Gesellschaft von Geprellten. „Beziehungen“ hatten immer die anderen. Im Herbst waren wir alle Opfer. Das war schön.
Schalck-Golodkowski zum Beispiel schätzten sie im Westen als cleveren „Kapitalbeschaffer“, der durchaus „einer von uns“ hätte sein können. Im Osten war der Mann nicht nur verhasst, weil er Günter Mittag weicheres Klopapier besorgt hatte. Er war vor allem ein „Geschäftemacher“, ein Begriff, der automatisch das Attribut „skrupellos“ vor sich her schob.
Der revolutionäre Furor gipfelte folgerichtig nicht in Forderungen wie: Knüpft sie an ihre Fahnenstangen. Sperrt sie wenigstens ein. Nein, im Plattenbau, Küche ohne Fenster, da sollten sie wohnen. So wie wir. Dass an der Mauer ein paar hundert Leute erschossen und dass Wahlergebnisse begradigt worden waren, brachte viele Ostler nicht so sehr in Fahrt wie die Enthüllungen über das Südfruchtangebot in Wandlitz. Erich Honecker besaß einen Videorecorder, mit dem er sich den Kunstfilm „Die schwarze Nymphomanin“ zuführte. Und Harry Tisch konnte sein Damwild quasi vom Himmelbett aus schießen.
Dergestalt waren die tiefen Enttäuschungen, die den Abschied damals leichter machten. Und die Ankunft heute schwerer. Denn die reine Lehre von der „Aufhebung der Klassenunterschiede“, die haben viele Ostler mitgenommen. In Fragmenten, aber sie ist da, und zwar durchaus neben Kleingeist und Neid. Die Bundesrepublik hat sich ein Stückchen kommunistischer Utopie eingehandelt. Ein Missvergnügen, um das der Westen 1989 förmlich gebettelt hat; schließlich wurde den Ostlern wie entfesselt applaudiert, als die sich über die Klassenunterschiede zu ihren Führern ereiferten. Jetzt hat man ihn am Hals, ihren moralischen Impetus, und es sieht so aus, als könnte ihn diese auseinanderdriftende Gesellschaft – vernünftig dosiert – ganz gut vertragen.
Vielleicht hätte die Quick-Reporterin es uns damals sagen sollen. Dass wir uns an gewisse Unterschiede gewöhnen müssen. Dass jeder afrikanische Clanchef besser für die Seinen sorgt als Sindermann. Dass unsere Unterdrücker nicht nur lausige Ideologen und Ökonomen waren, sondern auch als Diktatoren das Weltspitzenniveau weit verfehlten. Stattdessen klopfte sie uns, den Gerechten, auf die Schultern: „Beheizte Garagen, Saunen, Swimmingpools ... Luxus, wohin man sah. Sogar die Zahnbürsten passten farblich zu den Badezimmerfliesen.“ Klodeckelgate ...
Einige Wochen darauf begegnete mir in einem Westberliner Baumarkt eine Grohe-Mischbatterie. Sie sah gewöhnlich aus. Jetzt habe ich selbst eine und überlege, ob ich Bill Gates bewundern oder anprangern soll. Muss man Ted Turner dafür auf Knien danken, dass er der UNO eine Milliarde Dollar schenkt, oder ihn dafür beschimpfen, dass er das Restgeld behält? Soll man deutschen Topmanagern verargen, dass ihnen ein, zwei Millionen im Jahr nicht mehr genügen, oder ist es nur billig, dass sie sich an Weltmarktpreisen orientieren? Ist das alljährliche Diätentheater sozialneidisch oder sozial gerecht? Ganz langsam bemerkt der Ostler, dass diesmal nichts da ist, worauf er sich berufen könnte. Schröder kann erzählen, was er will. Es gibt keine Versprechen mehr. André Mielke
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