piwik no script img

Der Senator und die Hure

■ In die Abgründe der US-amerikanischen Seele führt die szenische Lesung „Love Letters“, die jetzt am Oldenburgischen Staatstheater Premiere hatte

„Rettet das Briefwesen!“ So könnte man vordergründig A. R. Guerneys „Love Letters“ untertiteln, herrscht doch zwischen den Protagonisten Melissa und Andrew ein nicht enden wollender Streit um die Vorzüge a) des Telefons gegenüber b) dem Brief, und ebenso von b) gegenüber a). Hintergründig und im Verlauf der szenischen Inszenierung von Georgia Eilert am Oldenburgischen Staatstheater entpuppt sich der Text aber als bitterböse Satire. Zielscheibe: die Scheinmoral prüder bürgerlicher Wohlanständigkeit der amerikanischen Mittelschichtgesellschaft.

Melissa Gardner hat all das, was Andrew Makepeace Lad III durch wohlanständige Erziehung und Fleiß zu erreichen trachtet: Wohlstand und Prestige. Auseinandergerissen durch Internate, Klosterschulen, Erziehungs-, Bildungs- und Besserungsanstalten, schreiben die beiden sich Sätze wie : „Ich mach' die Aaaas und Oooos jetzt oben zu“ – „Ich mach' AA nur in der Pause“. Kinderbriefe, dann pubertierende Töne, die ihnen heute US-Knast einbringen würden.

Doch die Intimität zwischen den beiden existiert nur in den Zeilen. Treffen sie in der Realität aufeinander, kommt es nicht zu dem Kontakt, den sie in der Korrespondenz beschwören. Melissa gibt den Briefen die Schuld an der absurden Situation. Zu genau kennt sie Andrew, um noch erotisch zu empfinden, und zugleich fehlt beim Zusammentreffen die Briefperson und damit jene Intimität. Andrew aber beharrt auf dem Schreiben, nur hier fühlt er sich wirklich lebendig – zur wirklichen Berührung scheint er unfähig.

Ihre erotische Beziehung zueinander leben sie im eifersüchtigen Voyeurismus aus. Das Schreiben wird für beide zum „Ausweg aus einer irrealen Kindheit“ (Andrew), aus deren Verschworenheit sie sich zunehmend fortentwickeln: er zum verantwortungsvollen Hoffnungsträger seiner Eltern, zum Jurastudenten, republikanischen Familienvater, schließlich zum Senator – sie zur „versoffenen, zynischen, geilen alten Nutte“, nymphomanisch auf der Suche nach Erfüllung der Diskrepanz zwischen Brief- und Lebensrealität.

Ihre Postkarten werden zu Überlebenstelegrammen – er schickt als jährlichen Weihnachtsrundbrief eine Aufzählung bürgerlicher Artigkeiten und Erfolgsnachrichten. Ein spätes Treffen der beiden hat Folgen: Die „verklemmten ältlichen Mitglieder der besseren Gesellschaft flippen ziemlich aus“, werden ein heimliches Liebespaar. Doch das ist dem Herrn Senator dann doch zu karrieregefährdend. Melissa bringt sich um. Andrew wird gewahr, dass ihre Stimme stets seiner dunklen, gefährlichen Seite Sprache verliehen hat. Jetzt, da sie fehlt, tut sich ein Abgrund auf, in den er zu stürzen droht.

An schlichten Tischen dem Publikum zugewandt – mit Wasserglas, den Text in bürogängige Eckspanner geklemmt – gestalten Dieter Bähre und Elfi Hoppe diese szenische Lesung prägnant, ohne jedwede theatralische Überzeichnung. Allein durch Temposetzung und Stimm-Modulation entfaltet sich in achtzig kurzweiligen Minuten die ganze Doppelbödigkeit des Textes. Hinterhältig, beißend sarkastisch zeichnet er ein personifiziertes Bild der amerikanischen Gesellschaft, die ihre abgründige Stimme zum Schweigen bringen will, derer sie doch bedarf, um den Erfolg ihrer Anständigkeit öffentlich zu inszenieren. Marijke Gerwin

Die nächsten Aufführungen: 7., 24. November und 5. Dezember, jeweils um 20 Uhr im Kleinen Haus des Oldenburgischen Theaters

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen