Living in a box

■ Schulung der Wahrnehmung: Maria Elena Amos inszeniert mit Studenten des Instituts für Neue Musik der HdK Franco Evangelistis lange vergessene Oper „Die Schachtel“

Im Kesselhaus in der Kulturbrauerei steht ein dreidimensionales weißes Rechteck auf der Bühne. Im Theater nennt man so etwas Guckkastenbühne, hier ist es einfach „Die Schachtel“. In der Schachtel bewegen sich gesichtslose Menschen puppenhaft wie in einem dieser Werbefilme für die Zukunft, in denen Männer in Anzügen und Frauen mit großformatigen Einkaufstüten eiligen Schrittes eine imaginäre Piazza überqueren: Das Leben in der Schachtel ist pastellbunt, clean und ziemlich überschaubar.

Vor der Schachtel sitzen aber ernsthaft dreinblickende, junge Menschen, ganz in Schwarz gekleidet, und spielen dazu seltsame Musik. Kaum ein vertrauter Ton verlässt die Instrumente des kleinen Kammerorchesters. Die Blas- und Streichinstrumente surren, ächzen, poltern, plätschern an- und abschwellend, ohne dabei zu Krach zu werden. Die Musik des „Ensemble Mosaik“ ist so unauffällig wie präsent, sie verleiht den Pantomimen eine unsichtbare, bizarre Silhouette, als würde ein Geheimnis diese Klischeefiguren umwehen, das man nur hören kann. Diese „Pantomime mit Musik“ hat sich vor fast 40 Jahren der italienische Neue-Musik-Ingenieur Franco Evangelisti ausgedacht. Gemeinsam mit dem Maler Franco Nonnis entwickelte er ein fein durchkomponiertes Bühnenwerk, das in den 60er Jahren auf Unverständnis und Ratlosigkeit traf. Zur Musik und zur szenischen Darstellung sollten auch Tonbandeinspielungen und Bildprojektionen kommen. Heute sagt man Multimedia dazu, kaum geändert hat sich allerdings etwas an der Schwierigkeit, so ein Werk tatsächlich aufzuführen. Die Inszenierung von Maria Elena Amos – ein Projekt des Institutes für Neue Musik der HdK – ist die europäische Erstaufführung.

Das „Thema“ der Schachtel ist die zunehmende Komplexität moderner Lebensverhältnisse. Im Kampf gegen den Zwang zur Anpassung an den technologisch-bürokratisch vermittelten Mainstream bleibt der Kunst nur die Schulung der Wahrnehmung. Das postdramatische Theater abseits der großen Häuser setzt schon lange auf diesen Prozess, in dem es nicht um erklärenden Sinn, sondern um die individuelle Verknüpfung von Raum, Zeit und Wahrnehmung geht. Die Aufführung in der Kulturbrauerei führt die Mittel, die man in diesem Prozess einsetzen kann (Ausnahme: live gesprochener Text) höchst überzeugend vor. Die Bildprojektionen auf die Schachtel erzeugen einen effekt-tiefen 3D-Raum, der die Menschenpuppen als integralen Bestandteil einer Matrix aus digitalem Code und sentimentalen Bildern zeigt, bevor sie sich am Ende in ihre Einzelteile auflösen.

Die Alltagsgeräusche vom Band kommen von der Seite, so dass man sich als Zuschauer und -hörer wirksam in einen grenzenlosen Raum versetzt fühlt. So wirksam, dass man auch das Handy-Klingeln vom Band zunächst ernst nimmt, bevor es in eine entlarvende Schleife überführt wird.

In knapp 60 Minuten entsteht ein äußerst klares, atmosphärisches Bild vom modernen Leben in der Schachtel, das durch den Einsatz seiner Mittel über seine Bildhaftigkeit schon wieder hinausführt. Ein Kunsttheatertraum. Eine Ahnung davon, dass es ein Leben außerhalb der Schachtel geben könnte. Felix Herbst
‚/B‘Bis 5. 11 ab 20.30 Uhr im Kesselhaus der Kulturbrauerei, Knaackstraße 97