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Scholl-Latour verdauen ■ Von Jens Halberbock
Durch das kleine, handgroße Loch am oberen Ende der Tür drang nur wenig Licht ein. Ich hockte auf einem öffentlichen Stehklo der südostanatolischen Stadt Diyarbakir, fragte mich, warum Stehklos „Stehklos“ heißen, obwohl man doch auf ihnen hockt, und wollte gerade das neueste Türkeibuch von Peter Scholl-Latour verdauen.
Die ersten Buchstaben plumpsten schon aus mir heraus, als sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Endlich konnte ich meine Umgebung eingehend studieren – und das Klo, das ich gerade besuchte. Es war – wie ich in einem Bruchteil von Sekunden voller Entsetzen erkannte – nicht wie üblich mit einem Abflussrohr ausgestattet; nein, Scholl-Latours Werk landete direkt in einer Sickergrube. Ich möchte nicht behaupten, dass das Buch dort weniger gut aufgehoben wäre als in einem moderneren Toilettensystem, aber eines entsetzte mich doch: Unter mir saß eine ausgewachsene Ratte; eine Ratte, die – wie es mir schien – bereit war aufzuspringen und zu schnappen nach meiner Zukunft. Blitzschnell schnellte ich aus der Hocke in die Höhe, um dem Sprung der Ratte zuvorzukommen.
In dieser Situation erkannte ich erstmals, was wahre Tragik ist: Ich stand vor der Alternative, entweder Peter Scholl-Latours neuestes Elaborat auch weiterhin in meinem Mastdarm zu halten und möglicherweise an inneren Blutungen zu sterben, oder aber es loszuwerden – wenigstens unter heftigsten Kastrationsängsten; vielleicht aber sogar um einen noch viel höheren Preis. Hätten sie mir nicht ohnehin schon in den Kniekehlen gehangen, in jenem Moment hätte ich meine Hosen runterlassen müssen. Ich gestehe: Ich hatte keine cojones und wollte sie auch nicht verlieren – ich war bereit zur Flucht!
Doch noch bevor ich meine Kleider raffen konnte, war die Ratte auch schon mit einem behenden Satz aus der Sickergrube heraus gesprungen. Triumphierend stellte sie sich an die Klotür, lächelte und hub ungefragt zu einer Vorlesung an: Es gebe keinen Grund zur Flucht vor einer Ratte, seien sie und ihre Artgenossen doch herzlich freundliche Wesen.
„Wir haben Platz geschaffen“, führte sie sodann wörtlich aus, „für neues, nicht mehr monströses Leben ... Auch der Mensch ließ sich auf unsereins, die ersten Säuger, zurückführen; was er uns übel gedankt hat ...“
Die Ratte war nicht zu stoppen, bis sie sich selbst mit einer Frage unterbrach. Plötzlich wollte sie wissen, wie ich zu dem neuesten Buch von Peter Scholl-Latour stünde. Doch sie wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern erklärte, dass der Mann seinen Lesern die wichtigste Information über die Kurden vorenthalte: Ich möge mir doch einmal Fotos aus dem Umfeld der Alt-68er ansehen, dann wüsste ich schon, was sie meinte: Ihr „persönlicher Freund“ Günter Grass sei der Bruder von PKK-Chef Abdullah Öcalan – und von Jürgen Trittin.
Dann entschwand die Ratte in einem Loch und ließ mich triefenden Pos zurück. Ich stand da, überrascht, glücklich, dem Unglück entronnen zu sein, und bereichert um wichtiges Wissen. Zumindest hatte Scholl-Latour mir, wenn auch nur indirekt vermittelt, warum Stehklos „Stehklos“ geheißen werden.
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