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Die moralische Bombe auf Seite neun

■ Die „Frankfurter Rundschau“ veröffentlichte eine revisionistische Betrachtung über Hitler-Attentäter Elser – und schämt sich ein wenig

Berlin (taz) – Die Titelseite der Frankfurter Rundschau vom vergangenen Montag versprach interessante Einblicke in ein altes Thema: „Das Attententat Georg Elsers auf Hitler im Bürgerbräukeller aus neuer Sicht“ wurde für die Seite 9 angekündigt, gerade passend zum sechzigsten Jahrestag des missglückten Sprengstoffanschlages. Die ganzseitige Dokumentation einer Rede des Chemnitzer Privatdozenten Lothar Fritze offenbarte tatsächlich Ungewöhnliches, zumal für eine gemeinhin als politisch links stehend geltende Zeitung wie die Rundschau: Fritze reflektiert, ob Elsers Attentatsversuch gerechtfertigt war – sein Schluss: Er war es nicht.

„An dem Vorgang verwundert zunächst“, leitet Fritze seinen „Versuch einer moralischen Bewertung“ ein, „mit welcher Selbstverständlichkeit ein Mann geehrt wird, obwohl er den Tod von acht Menschen schuldhaft verursacht hat“. Fritz spricht Elser die politische Kompetenz ab, die durch Hitler drohende Kriegsgefahr einschätzen zu können: Der „Täter“ habe „seine politische Beurteilungskompetenz überschritten“. Zwar sei Elsers Ziel „akzeptabel“ gewesen, er habe durch die Platzierung der Bombe im Bürgerbräukeller jedoch „in einer mitleid- und gedankenlosen Weise“ den „Tod unbeteiligter Dritter von vornherein einkalkuliert“.

FR-Redaktionsleiter Jochen Siemens, der am Montag zahlreiche empörte Anrufer beschwichtigen musste, sagte, er sei selbst „nicht sonderlich glücklich“ mit dem Text des Chemnitzers: „Mir wäre es lieber gewesen, wenn durch einen anderen Vorspann vor dem Beitrag klarer zu erkennen gewesen wäre, dass es sich nur um eine Ansicht handelt.“ Mit der für die „Dokumentation“-Seiten verantwortlichen Redakteurin Jutta Roitsch, gerade dienstlich verreist, müsse er „noch reden“. Derweil kocht die Empörung bei Historikern hoch: Die Leiter der Berlinder Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Peter Steinbach und Johannes Tuchel, halten den Versuch, dem Attentäter Johann Georg Elser die moralische Rechtfertigung abzusprechen und ihm „ausgerechnet am 60. Jahrestag des Anschlages seine Würde zu nehmen“, für unverantwortlich. Dieser „Angriff auf die Würde Elsers“ setze sich über langjährige Forschungsarbeiten hinweg. Fritze ignoriere völlig, dass Elsers Tat die Folge einer verantwortlichen und wohl reflektierten Gewissensentscheidung gewesen sei.

„Einige Passagen in dem Text sind missverständlich“, kommentiert Redaktionschef Siemens. Als Konsequenz auf die Empörung will er der Gedenkstätte nun Platz für eine ähnlich lange Darstellung der Person Elsers einräumen. kuz

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