■ Kommentar: Emotionale Kälte Asyl: Otto Schily und das Dilemma der Bildungsbürger
Anthroposophen eilt der Ruf voraus, sie seien sanft wie ein Angora-Pulli. Otto Schily ist Anthroposoph. Und sein zickzackreiches Streben an die politische Spitze hat ihm schließlich den Job des Innenministers beschert. Damit hat der Schöngeist zwar sein Lebensziel erreicht, sich aber auch ein Problem eingehandelt. Denn Innenminister dürfen eines nicht sein: schöngeistig und sanft. Eine Mischung aus Blockwart und Zuchtmeister, das ist es, was sich der Bürger wünscht. Einen wie Manfred Kanther eben.
Schilys Äußerungen zum Thema Asyl drängen die Parallele zum Vorgänger auf. Allzu gleich klingt das von ihm angestimmte Lied über „Wirtschaftsasylanten“ und die Grenzen der Belastbarkeit durch Zuwanderung, die überschritten seien. Schily gleich Kanther? Nein. Kanther war Überzeugungstäter. Seine Phobie gegen Zuwanderung und Kriminelle, die für ihn am ehesten Ausländer waren, war echt. Er konnte nicht anders. Schily kann anders – etwa im gediegenen, bildungsbürgerlichen Rahmen über Rassismus und Universalismus parlieren.
Nichts dagegen einzuwenden, wenn Schily darüber nachdenkt, ob es Grenzen der Zuwanderung gibt. Allzu lange wurde die Diskussion von rechts bis links emotional, selten rational geführt. Aber Schily hat inzwischen die Grenzen des Zulässigen überschritten. Wenn er behauptet, 97 Prozent der Flüchtlinge seien Wirtschaftsflüchtlinge, tut er das wider besseres Wissen. Warum lässt er es dann nicht? Erstens, um die Rolle des strammen Innenministers zur Zufriedenheit aller Kleinbürger zu spielen. Und zweitens, um als braver Parteisoldat seinem Dienstherrn Gerhard Schröder im Bereich der Innenpolitik den Rücken gegen Angriffe der Opposition frei zu halten.
Schilys xenophober Flirt offenbart aber auch ein Dilemma des deutschen Bildungsbürgers: sein Schwanken zwischen der Humanität des Denkens und der Inhumanität der Tat, die sich schnell entfaltet, sobald er glaubt, dem Volk aufs Maul schauen zu müssen. Die Rassisten aus Opportunität sind es, die in Deutschland die schlimmsten Verheerungen anrichteten. Ihre emotionale Kälte und ihr taktisches Verhältnis zu Überzeugungen macht sie noch immer gefährlicher als jeden Überzeugungstäter. Denn der fühlt zumindest seine Schamgrenzen.
Eberhard Seidel
Bericht Seite 6
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