: Größte Enttäuschung meines Lebens“
■ Oberstleutnant Jäger öffnete an der Bornholmer Straße den ersten Schlagbaum
taz: Sie hatten am 9. November 1989 Dienst auf der Bornholmer Brücke. Was passierte?
Harald Jäger: Gegen 19 Uhr, als Schabowski seine Pressekonferenz hielt, war meine Abendbrotzeit. Mir blieb der Bissen im Hals stecken. Er gesagt: Die DDR Bürger dürfen sofort ausreisen. Ich rief meinen Vorgesetzten an. Der sagte: „Mensch, hast du diesen Quatsch auch gehört? Die Befehle kennst du. Es gibt nur die Ausreise für DDR-Bürger, die im Besitz eines Passes oder Visums sind.“
Hat Sie das beruhigt?
Na ja, vielleicht wird alles nicht so dramatisch, habe ich geglaubt. Aber dann konnte man zusehen, wie die Masse vor uns wuchs.
Hatten Sie Angst?
Die Situation war noch nicht wirklich bedrohlich. Aber die Forderungen wurden nachhaltiger. Sie riefen: „Wir wollen rüber!“ Sie begründeten es damit, dass Schabowski ihnen das Recht eingeräumt hatte. Und was die Partei sagte, das war für uns DDR-Bürger Gesetz und Befehl. Das galt auch für mich. Mein Vorgesetzterließ dann am Telefon durchblicken, dass die ganze Führung konfus sei. Die Stimmung wurde immer aggressiver. Außerdem war die Presse da. Und das stärkte den DDR-Bürgern den Rücken. Wir hatten Angst vor Massenpanik. Es musste etwas passieren. Von oben kam kein Rückruf mehr. Das Chaos hat mir die Augen geöffnet: Wenn die nicht wollen, müssen wir etwas tun. Und dann habe ich um 23.30 Uhr die Anweisung gegeben, den Schlagbaum zu öffnen.
Wie haben Sie sich da gefühlt?
Wir waren schockiert. So schnell konnte man gar nicht denken, wie sich die Lage entwickelte.
Freude kam nicht auf?
Ich war maßlos enttäuscht und fühlte mich von meinen Vorgesetzten total allein gelassen. Ich hatte jahrelang Vertrauen zu den Staatsfunktionären gehabt. Das brach innerhalb weniger Stunden gänzlich zusammen.
Später am Morgen kippte die Stimmung bei mir, und ich wurde durch die Freude angesteckt. In der Nacht verstand ich, dass nicht alle die DDR so empfunden hatten wie ich.
Was machen Sie heute?
Heute habe ich einen Zeitschriftenladen. Ab 1990 war ich zwei Jahre lang arbeitslos. Ich habe mich beworben. Aber niemand wollte mich haben. Dann bin ich in den Zeitschriftenhandel gerutscht.
Was denken Sie über die DDR?
Es gab da Höhen und Tiefen. Für mein Leben waren es mehr Höhen. Allerdings habe ich erleben müssen, dass es im Sozialismus nicht so vorwärts ging, wie man es sich vorgestellt hat. Zum Beispiel die Mangelwirtschaft und die Reisefreiheit.
Und die Meinungsfreiheit?
Ich habe als Mitarbeiter der Staatssicherheit die Meinungsunfreiheit nicht so gespürt. Ich konnte meine Meinung sachlich und kritisch vortragen. Es gab auch einige Tabus. Man durfte natürlich nicht den Sozialsimus generell in Zweifel ziehen. Aber Kritik am bestehenden System zu üben, das hat Ihnen niemand verboten, wenn es sachlich blieb. Die ständigen Nörgler hat man natürlich mit der Zeit von der Staatssicherheit observieren lassen.
Treffen Sie sich heute noch mit den Kollegen von früher?
Nein, ein Klassentreffen oder Kameradschaftstreffen, das machen wir nicht.
Interview: Annette Rollmann
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