Auffällig war er nie

■ Der Meißener Gymnasiast Andreas S. hat das Messerattentat auf seine Lehrerin gestanden. Über seine Motive wird weiter gerätselt

Kein Tatmotiv. Nirgends. Die Verhältnisse, in denen der Gymnasiast Andreas S. lebte, werden als „solide“ bezeichnet

Berlin (taz) – Andreas S. hat seine Geschichtslehrerin umgebracht. Gestern gestand der 15-Jährige, der aus einem kleinen Dorf nahe des sächsischen Meißen kommt, die Tat. 22-mal hat er auf die 44-jährige Sigrun Leuteritz mit zwei Messern eingestochen, ein Stich traf tödlich das Herz. Das ergab der Obduktionsbericht.

Entsetzen am „Franziskaneum“, dem beliebtesten Gymnasium der Region. Wie konnte das passieren? Statt Unterricht gab es dort gestern eine spontane Trauerfeier für die Lehrerin. Dabei stand auch die Frage im Raum: Was hat Andreas S. zu dieser Tat bewogen? So viel steht fest: S. hasste seine strenge Geschichtslehrerin. Nicht dass er besonders brutal wäre – Mitschüler beschreiben ihn als „nicht aggressiv, nicht gewissenlos“. Allerdings soll er sich gern Gewaltvideos angeschaut haben, in brutale Videospiele wie „Quake“ oder „Revidend Evil II“ vernarrt gewesen sein. Er sei bei Gleichaltrigen nicht unbeliebt gewesen, kein Einzelgänger. Andreas spielte auf dem Bolzplatz regelmäßig Fußball, überzeugte als stellvertretender Klassensprecher. Er hatte auch eine Art Clique. Die ist aber nach Einschätzungen des Lehrerkollegiums nie besonders aufgefallen.

Schulische Probleme? Nein, die hatte der ehrgeizige S. nicht. Zwar soll er im Fach Geschichte Probleme gehabt haben. „Der Verdächtige gehörte nicht zu den Topschülern, war aber gutes Mittelfeld“, bestätigt Steffen Große, Sprecher des sächsischen Kultusministeriums. Auf Konflikte mit dem Elternhaus deutet nichts hin. Nachbarn beschreiben, dass der gläubige Andreas mit seiner Mutter häufig gemeinsam in die Kirche ging. Klassenkameraden wollen ihn am Tag vor der Tat in der Schule betend gesehen haben. Auch Liebeskummer als Tatmotiv scheint ausgeschlossen. S. war gerade zum ersten Mal verliebt und – so beschreiben Mitschüler – glücklich.

„Wir haben uns bei Lehrern, Freunden und Mitschülern erkundigt, um wenigstens eine Idee für ein Tatmotiv zu bekommen“, sagt Cornelia Franke, Sprecherin des Regionalschulamts Dresden. Das Ergebnis: Keine Spur. Nirgends. Andreas S. habe keine Leistungsschwierigkeiten, keine Disziplin- oder Anerkennungsschwierigkeiten gehabt, so Franke. „Das schulische, private Umfeld und auch das des Elternhauses scheint absolut solide.“ Auch die Lehrer würden sich fragen, was sie übersehen haben. Franke: „Wir stehen vor einem Rätsel.“

Spekuliert wird über eine Zugehörigkeit von S. zu den Gruftis, einer Art jugendlicher Protestbewegung mit Totenkult. Eine Boulevardzeitung will wissen, dass S. des nachts an schwarzen Messen auf dem Friedhof teilnahm. Das aber liess sich gestern genauso wenig festmachen, wie eine Wette, bei der Mitschüler bis zu 100 Mark darauf setzten, dass sich S. nicht traut zu Morden. Immer wieder soll S. seine Tat angekündigt haben. Ernstgenommen hat das niemand. Nick Reimer