piwik no script img

■ taz-Streitgespräch zwischen Kolumnist Christoph Biermann, Autor Ulrich Fuchs und Redakteur Bernd Müllender über Sinn und Unsinn taktischer Detailanalysen im modernen FußballTaktik, Tackling, TictacTor ...

Christoph Biermann und Ulrich Fuchs haben soeben ein neues Buch geschrieben, das uns fachkundig, leichtlesig aufbereitet und bisweilen unterhaltsam die komplizierte Fußballwelt der Taktik und Systeme näher bringen will. Wir lernen die Feinheiten von Dreier- und Viererketten, das listige Verschieben in Überzahl, vom verdichteten Spiel, von der vertikalen Ungebundenheit der Spieler und revolutionärer französischer Defensivorganisation.

Aber: Ist Erfolg im Fußball wirklich planbar? Ist es einem Angreife nicht egal, ob ihn ein Vorstopper stört oder ein Viererkettenviertel, das aus der Tiefe eines Zonenraumes angeschnauft kommt? Und: Sind schieres Glück oder ein schiefer Grashalm nicht bisweilen entscheidender? Sind nicht Trainer oft grandiose Blender, die sich mit modernen Begrifflichkeiten wichtig machen wollen?

Bernd Müllender: Eurem Buch ist ein Zitat von Matthias Sammer vorangestellt: „Wir Deutschen haben keine Ahnung von Taktik!“ Das ist auch ein Segen.

Christoph Biermann: Segen? Warum?

Müllender: Weil da offenkundig sehr viel dummes Zeug geschwätzt wird, von Journalisten, Spielern und vor allem Trainern.

Biermann: Fußballtaktik ist in der populären Wahrnehmung in Deutschland bislang viel zu kurz gekommen. Es macht doch viel mehr Spaß zu gucken, wenn man mehr versteht. Anfangen kann ja jeder auf der ganz einfachen Einsteigerebene: Da rennen welche hin und her, dann fällt ein Tor und alle brüllen. Aber irgendwann will man mehr wissen, vor allem: Warum passiert dies, klappt jenes nicht? Mit unserem Buch wollen wir eine Sehhilfe bieten: keine romantischen Verschränkungen oder abschließende Philosophie, sondern Begriffe erklären.

Ulrich Fuchs: Außerdem wollen wir die Leser nicht zu Taktik-Fetischisten machen. Der Ansatz ist schlichter: Mit Läufer, Ausputzer oder mit dem Vorstopper (“Kein Mensch, kein Tier – die Nummer 4“) sind wir groß geworden. Aber die Entwicklung deutet in eine andere Richtung. Entscheidend ist immer weniger der Kampf Mann gegen Mann, sondern ein funktionierendes Teamwork im Raum. Diesen Paradigmenwechsel beschreiben wir.

Müllender: Ich lese die analytische Aufbereitung von Begriffen wie ballorientierte Gegnerdeckung, Verschieben von Mannschaftsteilen, all die vielen modernen Ketten oder „einschwenkenden Außenbahnspielern“. Sicher mag Nachhilfeunterricht Sinn machen; oft wird aber mit manchen Begriffen viel alter Wein in neuen Schläuchen verkauft: Aller Erfolg wird heute mit irgendwelchen taktischen Finessen bejubelt ...

Ulrich Fuchs: ... Quatsch. In der Berichterstattung wird doch nicht ernsthaft irgendwas erklärt. Selbst in den so genannten Analysen wird doch nur Personenkult betrieben und populistisches Zeug gequatscht: Trifft eine Mannschaft nicht, dann fehlt ihr ein Knipser, klappt das Spiel nach vorne nicht, dann braucht sie einen Spielmacher – alles Erklärungen, die sich der ewig gleichen und überkommenen Muster bedienen.

Müllender: Kaiserslautern hat doch gegen Tottenham nicht wegen strategischer Raffinesse Otto Rehhagels gewonnen, sondern weil der Ball in der Nachspielzeit zweimal ins Tor kullern wollte ...

Fuchs: ... wir würden nie was anderes behaupten.

Müllender: Fußball ist im Grunde oft eine banale Zufallsangelegenheit. Und dem Angreifer ist doch egal, ob einer Stopper heißt, der ihm im entscheidenden Moment auf den Füßen steht, oder ob es ein Viererkettenviertel ist, das aus der Tiefe der Zonenräume angeschnauft gekommen ist.

Fuchs: Aber genau da geht es doch los. Erstens wird ein Angriffsspiel gegen eine Kette oft anders inszeniert. Zweitens verfolgt der Verteidiger seinen Stürmer heute nicht mehr bis aufs Klo. Aber nicht weil er zu faul, sondern weil das Spiel anders organisiert ist. Uns geht es um die Idee: Wie wird das Spiel organisiert – und warum ist das so.

Biermann: Natürlich hat so einiges im Bereich Taktik auch einen halbreligiösen Unterton. Manche hoch philosophischen Abhandlungen, etwa von Louis van Gaal, funktionieren nur auf allerhöchstem Niveau wie einst bei Ajax oder in Barcelona. Wir haben die Ideen zusammengestellt und aufbereitet, auch historisch.

Müllender: Ihr schreibt, der Fußball habe bei der WM 1998 „eine Revolution erlebt“. Und ihr schreibt, wie sehr sich das Spiel verdichtet habe, wie hässlich man es machen kann. Das ist doch dann konterrevolutionär. Oder ist nur kontern revolutionär?

Biermann: Wir können auch nicht den allein selig machenden Fußball erfinden. Aber Franzosen, Holländer oder Brasilianer haben nicht schön gespielt, um ästhetisch zu überzeugen, sondern schlicht, um zu gewinnen. Das Aufregende an der WM war für uns, dass schöner Fußball in nie gesehener Breite auch erfolgreicher war. Ist das der Trend? Das wäre toll. Umgekehrt: Sind die Deutschen vielleicht deshalb nicht mehr so erfolgreich, weil sie sich meist mit völlig antiquierten Mitteln durchzuwurschteln versuchen. Ärmel hoch krempeln, deutscherKampffußball – dieses Zeitalter scheint vorbei.

Müllender: Gary Lineker muss umdenken: „Fußball ist ein Spiel für 22 Leute, und am Ende gewinnt immer Deutschland.“

Biermann: Muss er. Und er wird nicht sehr traurig sein.

Müllender: Ich lese viel über Strategien, wie man eine Defensive strukturiert, wie das Spiel des Gegners zu behindern ist. Und weniger über Offensivstrategien.

Biermann: Kreativität auf der Basis einer Ordnung zu entwickeln ist schwerer, als die Grundordnung selbst herzustellen. Wenn man zwei Mannschaften hat, die extrem den Vorstellungen von modernem Fußball anwenden wie Verschieben, Raum eng machen, Überzahl, dann hast du eine faire Chance, dass das Spiel erstickt.

Fuchs: Gleichzeitig war es uns wichtig, dass bei der WM in Frankreich im Gegensatz noch zur Euro 96 das schnelle pfiffige Kurzpassspiel als befreiender Weg aus dieser Enge heraus kultiviert wurde – und nicht die verzweifelte deutsche Bananenflanke aus dem Halbfeld. Dieses moderne Offensivspiel ist eine Reaktion auf die immer perfektere Oganisation der Defensive.

Müllender: Ich zitiere: „Beim flüchtigen Hinschauen nähert sich das Spiel dann wieder jener Form, die wir auf Sonntagsspaziergängen gelegentlich bei F-Jugendlichen belächeln. Bienenschwarmartig bewegen sich zwei Mannschaften übers Feld – und immer hinter dem Ball her.“ Die sind tatsächlich auch immer in Ballnähe, nie in Unterzahl, machen die Räume dicht. Wir sehen also ein intuitiv hochmodernes taktisches Verhalten der Kinder. Im Profifußball sehen wir hoch verdichtete Horrorspiele wie Marseille gegen Milan, das Europacup-Finale 1993...

Fuchs: Und Holland-Brasilien, das wunderbare WM-Halbfinale!

Müllender: Trainer erzählen begeistert, zu welch hohem Niveau der moderne Fußball fähig ist. Und gleichzeitig entscheidet sich so ein Spiel in einem Moment, weil einer mal pennt. Oder da ist doch der mit dem Riecher, mit der genialen Eingebung im richtigen Moment.

Biermann: Was ist die Alternative? Weg mit der Taktik und lasst uns fröhlich drauf los spielen?

Müllender: Okay, solange da schreckliche populistische Vorschläge kommen wie Tore verbreitern und Abseits abschaffen.

Fuchs: Anders gesagt: War früher alles besser? Wir teilen ganz sicher nicht diesen jammerigen Kulturpessimismus. Fußball ist in einer Umbruchsituation, er funktioniert grundlegend anders als vor 20 Jahren. Aber ist er deshalb schlechter geworden? Wir finden nicht. Im Gegenteil.

Biermann: Ich habe zum Beispiel Rosenborg Trondheim in Dortmund gesehen. Phantastisch, ein Spaß ohne Ende. Dortmund hat gute Spieler, aber war sehr schlicht organisiert. Rosenborg ohne Stars hat hochmodern gespielt. Das war alter Fußball gegen neuen.

Müllender: Wenn ich mir so manche Trainerfiguren angucke, diese vielen Schlauschwätzer und Aufschneider, dann frage ich mich doch: Würden die euer Buch überhaupt verstehen? Bei manchem Trainer meint man doch, der antwortet auf die Frage nach dem Unterschied zwischen Taktik und Tackling: 2 Kalorien.

Biermann: Es gibt verschiedene Trainergenerationen und sicher heute noch aktive Trainer im Berufsfußball, die, sagen wir, na ja, mit taktischen Analysen vielleicht nicht so viel anfangen können. Aber viele tun es, und nicht nur die Lehrer-Nickelbrillen-Figuren wie Rangnick oder Volker Finke. Guck dir mal den Stilwandel bei den Bayern unter Hitzfeld an oder Leverkusens Spiel unter Daum.

Müllender: Ich möchte einen ungeliebten Kronzeugen zu Rate ziehen. Uli Hoeneß hat mal gesagt: „Taktik, neue Taktik, wenn ich das schon höre. Oder Großmeister der Strategie. Alles Mist. Da krieg ich die Krätze. Die Spieler müssen rennen. Bayern braucht keinen Trainer, der eine Taktik macht, sondern einen, der das Team bei Laune hält und zu Höchstleistungen treibt ...“ Wat nu?

Fuchs: Dann hat er nach dem Catenaccio-Fetischisten Trapattoni Ottmar Hitzfeld verpflichtet. Der redet mittlerweile am liebsten vom „schnellen Zirkulieren des Balles“, er hat den Libero vor die Abwehr geholt und hinten oft mit einer Quasi-Viererkette gespielt – alles keine Taktik oder was?

Biermann: Ein Trainer muss heute seine Mannschaft auch von strategischen Ideen überzeugen. Sonst hat er keine Autorität. Und das gilt nicht nur bei Bayern, sondern auch für, sagen wir mal, Alemannia Aachen ...

Müllender: Aber die sind gerade so gut, weil die Mannschaft ein eingeschworener Haufen ist. Aachens Trainer sagt: „Ich muss jedem einzelnen die Wichtigkeit aller zeigen.“ Psychologisch hoch wirksam – und das Team ist überraschend erfolgreich trotz einiger wahrlich nicht herausragender Spieler und ohne besondere taktische Finessen wie Quasi-Ketten.

Fuchs: Passt doch. Eine unserer zentralen Theorien lautet: Im modernen Spiel ist Teamwork wichtiger denn je. Da ist nicht mehr einer nur für die Drecksarbeit zuständig und der andere nur für die schönen Künste ...

Biermann: ... und genauso kannst du sagen, was reden wir über Taktik, wenn einer den Ball nicht stoppen kann. Es gibt ganz viele Faktoren im modernen Fußball; Taktik ist einer davon. Und Ausnahmefälle gleichen sich in einer langen Saison aus. Fußball ist simpel und doch hoch komplex.

Müllender: Und das Spiel wird noch oft seine Richtung ändern. Taktik ist die schönste Entschuldigung, wenn man glücklich gewonnen hat!

Biermann: Das ist jetzt aber eine gemeine Verdrehung des schönen Satzes von Cesar Luis Menotti, mit dem unser Buch endet: „Fußball ist die schönste Entschuldigung, um glücklich zu sein.“

Müllender: Kein Streit darüber?

Fuchs: Sicher nicht.

Christoph Biermann / Ulrich Fuchs:

Der Ball ist rund, damit das Spiel seine Richtung ändern kann – Wie moderner Fußball funktioniert.“

Köln 1999 (KiWi), 176 Seiten, 16,90 DM

Von Bernd Müllender ist 1998 erschienen:

„Fußballfrei in 11 Spieltagen – Eine Entziehungskur für Süchtige.“

Frankfurt/M. (Fischer), 256 S., 16,90 DM

Das Fußballmagazin Hattrick (Chefredakteur Uli Fuchs) erscheint an diesem Wochenende nach langer Pause erstmals wieder

Alle Hinweise mit dem taz-light-Gütesiegel: Streng eigenwerblerisch und nachhaltig empfehlenswert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen