: Dann brodelt mein Blut“
Wenn türkische Musik aus offenen Autofenstern oder türkischen Männercafés dröhnt, dann ist es sicher Arabesk. Im Herzschmerz und Lebensleid dieser Musikrichtung spiegelt sich ein Lebensgefühl ■ Von Aysegül Acevit
Ich erinnere mich noch daran, wie Ferdi Tayfur das erste Mal zu einem Deutschlandkonzert kam. Ich war damals noch ein kleines Mädchen und Ferdi ein unbekannter Sänger aus dem hinteren Anatolien, ein türkischer Ossi. Mit der ganzen Nachbarschaft waren wir in diesem Sommer zum Gysenberg-Park nach Herne gefahren. Mitten auf offener Wiese, die mit rotweißem Plastikband abgesperrt war, trällerte er seine schönsten Lieder. Ich weiß nicht, ob seine Karriere dort begann, jedenfalls wurde er danach ziemlich berühmt. Für uns Kinder, die mit Dieter Thomas Hecks Hitparaden groß geworden sind, war es eine willkommene Abwechslung. Für die Eltern, noch voller Heimatsehnsucht, ein unvergesslicher Tag.
Heute, zwanzig Jahre später: Dröhnende, rhythmische Bässe, dann ein ohrenbetäubendes, melodisches Üüüüüüümmmmüüüüüü, gesungen von einem scheinbar weinenden Sänger. Ehe wir uns umdrehen, ist das Auto schon an uns vorbeigefahren. Insider wissen: Der Fahrer war ein Fan der Arabesk-Musik. Jener Gattung, die hierzulande zum Inbegriff türkischer Musik geworden ist. Arabesk hört nicht jeder, der türkisch versteht. Arabesk ist was Besonderes. Arabesk heißt: fühlen, lieben, weinen, tanzen.
Deshalb müssen die Boxen im Auto manchmal mit einer ordentlichen Dröhnung „Ibo“ oder „Ferdi“ durchgepustet werden. Gerade in einem so „gefühlskalten“ Land wie Deutschland. Gerade im Zeitalter von Techno und Internet. Die Arabesk-Fans sind durchaus moderne Menschen. Sie sind jung, dynamisch und voller Gefühle. Und sie brennen für diese Musik.
Zafer ist 23 und berühmt für seine Arabesk-Leidenschaft. In seinem Auto liegen CDs von Janet Jackson und Will Smith, daneben welche von Müslüm Gürses, von Ibrahim „Ibo“ Tatlises und den anderen. „Müslüm Baba ist alles“, sagt Zafer. „Wenn der singt, dann brodelt mein Blut, dann blutet mein Herz.“ Aha, denke ich. „Wenn Müslüm Baba singt, dann kann man alles rauslassen. Wenn man traurig ist, fühlt man seine Traurigkeit, dann kann man heulen. Und wenn man tanzen will vor Freude, dann kann man aufstehen und tanzen.“
Zafer ist ein Durchschnitts-Türkodeutscher. Er ist ein gebürtiger Ruhrgebietler, hat eine Ausbildung als Kaufmann gemacht, hat fünf Geschwister, und seine Eltern stammen aus einem kleinen Städtchen am Schwarzen Meer. Er arbeitet viel und hart, mag schicke Klamotten und schicke Autos. Und er hat viele schmerzliche Erfahrungen gemacht. Wurde von seinen Eltern mehrmals in die Türkei auf ein Internat geschickt, dann sollte er doch wieder nach Deutschland. Er ist erst an der Schule, dann an der Ausbildung verzweifelt. Oft fühlte er sich wegen seines südländischen Aussehens und seines Akzentes diskriminiert und „erniedrigt“. Irgendwann hat er es geschafft, drüberzustehen. Jetzt ist er verliebt. Aber, wie es sich für einen wie ihn gehört, unglücklich. Seine Eltern sind gegen seine Auserwählte. Zafer leidet. Gott allein weiß, wie lange noch. Derweil findet Zafer Trost bei seinen Freunden und der Arabesk-Musik.
Asiye (26) dagegen ist Arzthelferin und begeisterte Hobby-Bauchtänzerin, und auch dafür ist Arabesk genau richtig. „Özcan ist total süß und nett. Irgendwie so normal. Er ist so wie ein netter Nachbar“ sagt sie über ihren Lieblingssänger. Vor allem seine schnellen Lieder mag sie. „Ibo mag ich auch noch. Aber er singt oft so blöde Sachen über Frauen, da hört dann der Spaß für mich auf.“ Für mich auch. Aber Ibrahim „Ibo“ Tatlises ist in der Türkei ein Frauenliebling par excellence. Und wenn er fröhlich von den prallen Brüsten seiner Angebeteten singt, ihren süßen Brustwarzen, die sich hinter ihrer engen Bluse aufgerichtet haben, so dass sich die Knöpfe nicht mehr schließen lassen, dann tanzen alle fröhlich mit. Ibo darf das. Ibo – das weiß jedes Kind – war, ist und bleibt ein Macho. Außerdem hat er hoch und heilig beteuert, der Text sei einem alten Volkslied entlehnt und als Kompliment gemeint.
Das Image ist im Arabesk-Geschäft genauso wichtig wie die Musik selbst. Deshalb versuchen die Sängerinnen und Sänger stets, ihrem Image gerecht zu werden. Zafer hat den Überblick: „Orhan Gencebay ist der Gentleman unter den Arabesks, der Efendi, der König. Bülent Ersoy, die ja auch klassische Musik macht, ist seit ihrer Geschlechtsumwandlung mehr was für feine Leute, die auch mal saufen und heulen wollen. Junge Stars wie Özcan Deniz und Emrah, die sind was für kleine Mädchen, Typ Schwiegersohn. Und Ibo, das ist ganz klar der Aufsteiger aus dem Osten. Vom singenden Bauarbeiter zum mildtätigen Millionär.“ Und Ferdi Tayfur? frage ich. „Also, Ferdi habe ich mal auf einem Konzert backstage in der Geraderobe erlebt, das war sehr enttäuschend“, sagt Zafer. „Der hat die ganze Zeit nur Raki gesoffen, einen auf Big Boss gemacht und dann playback gesungen. Aber Müslüm!?“ Zafer strahlt.
Auf einer Tour mit dem Auto quer durchs Ruhrgebiet kommen wir zu einem türkischen Club. Von draußen ist deutscher Pop zu hören, Xavier Naidoo. Doch lange kann es nicht mehr dauern, bis auch hier Tarkan und dann Ibo gespielt wird. Je später der Abend, desto türkischer der Sound. Und je weniger deutsche Gäste da sind, desto schneller geht es zur Sache. Dann erobern die Halaytänzer den Saal. Sie legen die Arme um die Schultern des Nachbarn – egal, wer er ist –, bilden einen Kreis auf der Tanzfläche und schwingen das Tanzbein. Was dann passiert, hängt vom Publikum ab. Entweder verlassen einige den Laden – was selten ist. Oder sie ziehen sich dezent an den Tresen zurück und schlürfen ihre Cola, bis der Spuk vorbei ist. Oder aber sie tanzen und mischen voll mit – das sind wohl die meisten. Die Halaysitte – der gemeinsame Volkstanz zu mit elektronischen Beats aufgedonnerter Arabesk-Musik – ist eine kulturelle Besonderheit der Türkodeutschen. In der Türkei ist diese Art zu tanzen in den schicken Diskotheken meist verpönt. Die Obeschichtjugend bevorzugt türkische Popmusik – sie klingt moderner, westlicher. Doch böse Zungen behaupten, auch diese neue Popmusik, vertreten durch Leute wie Tarkan, sei nichts anderes als modernisierter Arabesk. Gökhan Güney, einer der Urväter des Arabesk, ist ein erbitterter Vertreter dieser Meinung. „Meine Lieder zum Beispiel haben wir in den 70ern aufgenommen. Heute mixen wir etwas mehr Rhythmus und ein paar neue Effekte darunter und legen sie neu auf. Wenn wir das vergleichen mit den Popliedern, die die jungen Leute machen – das ist der gleiche Sound, die gleichen Texte, der gleiche Rhythmus. Alles das Gleiche. Hepsi Arabesk.“ Alles ist Arabesk, meint er.
Ob Tarkan und Kollegen damit einverstanden wären? Es würde jedenfalls eines bedeuten: dass die oft verpönte Arabesk-Musik in Gestalt von Tarkan, der hierzulande schon erste Hits landen konnte, bereits deutsche Ohren erreicht hätte.
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