Büchner zieht in die Videoschlacht

■ Theater Ost: grell. Theater West: einfach wie früher die Ossis. Zweimal Woyceck in Oldenburg

Der Galileo Galilei zugesprochene Satz „Und sie bewegt sich doch“ ist ein emphatischer Ausruf. Er erschütterte das zu Ende gehende Jahrtausend. Und er ist zugleich eine gewagte These, die der Überprüfung bedarf. In welche Richtung bewegt sie sich denn – die Erde im Allgemeinen und das Theater im Besonderen? Im Kreis, bis zum Schleudergang, bis Einheitsbrei hinten raus kommt, antwortet die Kulturpessimistin. Oder sprechen wir vielleicht – günstigenfalls – lieber von einer spiralförmigen Bewegung?

Eigentlich sollte an dieser Stelle über die unverfälschte (Vorsicht: der ethnologische Blick), osteuropäische Theateravantgarde geschrieben werden, die das „mare balticum“-Festival in Oldenburg zu präsentieren verspricht. Und tatsächlich: Sie zeigte sich schrill, laut und grell mit dem Gastspiel des Interstudio Sankt Petersburg in der Kulturetage. Die Gruppe junger SchauspielabsolventInnen hat unter der Regie von Oleg Nikolaenko Büchners „Woyceck“ als Rave, als Videoschlacht, als pompöse Kos-tümrevue inszeniert – als einen Anschlag auf die Sinne.

Woyceck und Marie werden von dekadenten, gewaltverliebten und obszönen Figuren bedrängt. Frauen mit amazonenhaft aufgepflanzter Metalltitte – ja, das muss man so sagen –, die phallisch in den Raum ragt. Ein kleiner selbstverliebter General in Glitterfummel und Lederhosen, der sich in martialischen Szenen von den Ladys auspeitschen lässt. In Video-clips erscheint Van Morrison. Seine Stimme spricht im Off vom Untergang, und der Clip zappt sich durch die erotischen Darstellungen unseres Kulturerbes – von den Griechen bis zum Kamasutra à la „Fit for Fun“. Dazu hämmern Collagen von Tricky bis Portishead, und schließlich gibt es ein Bild stetig rieselnder Geldnoten. Sex, Lügen, Videotapes – die ganze westliche Dekadenz bedroht hier die einfache Liebe.

Die Bühne, sie ist im Kopf des Protagonisten, in dem schließlich auch die Bildschirmbilder flimmern, die Technobeats hämmern, die Akteure breakdancend zappeln. Mit seiner medialen Überfülle, den überwuchernden Ideen und Absonderlichkeiten lässt sich dieses in deutscher Erstaufführung gezeigte Stück natürlich als Dekadenzkritik lesen. Doch fällt die Inszenierung dem eigenen Thema zum Opfer. Es gibt zu viele Effekte, zu viele schrille Bilder – stellvertretend für schauspielerische Aktion. Vor zehn Jahren traf diese Kritik hiesige Produktionen, während osteuropäische Theater mit einem einfachen Pappkarton als Requisite ganze Welten entstehen lassen konnten und so überzeugten. Eine Form, die sich – „Weniger ist mehr“ – gerade im westlichen Theater stärker durchzusetzen scheint. Das zeigte sich an Ulf Georges Eine-Person-Woyceck, der als „Late Night“-Vorstellung in der Kulturetage gerade Jugendliche faszinierte. Sie bewegt sich – im Kreis, spiralförmig, pendelnd. Marijke Gerwin