: Das Fleisch ist nicht böse
David Cronenberg überführt seine Vision vom Maschinenmenschen in ein neues Level: In „eXistenZ“ wird das Leben zum anthropomorphen Videospiel: Ich war's nicht, mein Game-Charakter ist es gewesen ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Gleich zu Beginn der Dreharbeiten zu „eXistenZ“, so heißt es, hat David Cronenberg, der mittlerweile 56-jährige ehemalige „king of schlock horror“, seine Hauptdarsteller Jennifer Jason Leigh und Jude Law ermutigt, sich intensiv mit dem Existenzialismus zu beschäftigen.Wahrscheinlich wird er ihnen eine Zusammenfassung des Blickkapitels aus Sartres „Das Sein und das Nichts“ gegeben haben. Vielleicht auch Sachen aus dem Sartreschen „Ekel“, in dem der Held immer wieder von der kontingenten Absurdität des menschlichen Fleisches abgestoßen ist. Noch in den Achtzigern rannten übrigens schwarz gekleidete Menschen durch die DDR, die man dort „Exis“ nannte.
Der Existenzialismus mit seinem ganzen Angst- und Todespathos und seiner Blickparanoia passt jedenfalls ganz gut zu Cronenberg, auch wenn heute alles ein bisschen komplizierter ist als weiland bei Heidegger. Dessen authentisch vereinzelter Held ließ sich entschlossen auf die „eigentliche“ Angst ein, die wesentlich Todesbewusstsein ist, und kam so zu einem authentischen Welt- und Selbstverhältnis. Die meisten allerdings waren feige und verloren sich als uneigentliches, klein geschriebenes „man“ in der Furcht an die Dinge, verfielen der Welt und ihrem „Geschwätz“, um der Angst, die wir sind, zu entgehen.
Das unwahrhaftige Bewusstsein, das „man“, wurde bei den 68ern zum „Gemüse“, das in seine Entfremdung durch die herrschenden Produktions- und die Arbeitsverhältnisse eingewilligt hat und in den kämpferischen Horror-B-Filmen der Siebziger oft als Zombie durch den Supermarkt rannte.
Bewusstseinsformende Fließbänder, an denen die Menschen zu Anhängseln von Maschinen gemacht werden, gibt es nicht mehr so viele. In fantastischen Filmen wie „eXistenZ“ pflegen sie nur noch als sentimental gefärbte Reminiszenz an ein vergangenes Industriezeitalter aufzutauchen, als Zitat einer Zeit, in der die Verhältnisse so beruhigend einfach schienen wie die saubere Trennung von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Echtem und Künstlichem.
Inzwischen wird das Bewusstsein des westlichen Menschen nicht mehr in erster Linie durch seine Arbeit, sondern vor allem in seiner Freizeit von einer immer raffinierteren Bewusstseinsindustrie geprägt. Fließbänder wurden durch andere Medien ersetzt: Computerspiele, Drogen, Internet, Fernsehen oder auch die Pornografie: Wer daran angeschlossen ist, wird einer Vielzahl von starken Reizen oder simulierten Erfahrungen ausgesetzt, auf die er – wie am Fließband – reagieren sollte, wenn er seinen Spaß haben und seinen Game-Charakter sicher ins Ziel bringen will.
Die Begeisterung für neue Technologien und Reize ist ein Grundzug aller Cronenbergschen Helden. Weil sie sich ihnen hingeben, weil sie süchtig sind – unfallsexsüchtig wie die Helden aus „Crash“, drogensüchtig wie der Schriftsteller in „Naked Lunch“, spielsüchtig wie Allegra Geller, die Heldin in „eXistenZ“ –, langweilen sie sich nie. Ihr seltsamer Existenzialismus besteht eigentlich in der Passivität, mit der sie sich irgendwann wild entschlossen den teilweise grotesken Veränderungen hingeben, die mit ihnen geschehen.
Das Schlachtfeld, auf dem dies geschieht, ist nicht mehr der Geist, sondern der verdrängte Körper, von dessen Zufälligkeit, Kreatürlichkeit, Gebärfähigkeit und Arbeitskraft sich die westlichen Gesellschaften so langsam verabschieden wollen.
Die Infragestellung des ehedem selbstverständlichen Körpers, seine Verdinglichung, Autonomisierung und Suspendierung, führt zu seiner Fetischisierung in Fitness- oder SM-Studios, der Schönheitsfarm oder beim Bodydrill und lässt ihn in fantastischen Filmen als Verdrängtes wiederkehren. Vielleicht auch als „sirius mindfuck“, wie eine Berliner Technodrogenbar hieß, die es nicht mehr gibt.
Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer, und der Körper kehrt als groteskes, mutiertes Fleisch wieder in den klassischen Filmen von David Cronenberg. In „Scanners“ (1980) explodieren zwei Köpfe beim Versuch, sich miteinander zu vernetzen. Eine Spalte, die aussieht wie eine riesige Möse, tut sich im Bauch von Max Renn auf, als er Snuff-Videos guckt; da werden dann pulsierende Videokassetten reingeschoben („Videodrome“, 1982). In „Die Fliege“ (1985) geht eine Teleportation daneben, und der Held mutiert zu einer Mischung aus Fliege und Mensch. In der Verfilmung von Burroughs' pornografischem Drogenroman „Naked Lunch“ verwandeln sich die Schreibmaschinen des Dichters in schmierige Monster, und in „Crash“ – der Geschichte eines Trios, das sich an Autounfällen erregt – lecken die Protagonistinnen gerne an den Narben ihrer durch Unfälle zugerichteten Körper.
Cronenberg treibt den Dualismus von Leib und Geist ins Extrem. Er glaube nicht, dass das Fleisch notwendig böse sei, sagte er in einem Interview mit der Zeitschrift Mondo 2000, es gehe vielmehr um seine Unabhängigkeit. „Die Kolonien“ – also das Fleisch – „entscheiden plötzlich, dass sie mit ihrer eigenen Persönlichkeit existieren können und sich vom Mutterland lösen sollten.“ Mit dem Ruf „Long live the new flesh!“ erschießt sich Max Renn am Ende von „Videodrome“. Die Fantasie einer friedlichen und für alle Seiten erfreulichen Zusammenarbeit zwischen Körper und Geist, die zunächst als Orgie mit neuen Geschlechtsorganen in der Schlusssequenz von „Videodrome“ angedacht war, hat Cronenberg in keinem seiner 15 Filme verwirklicht.
In „eXistenZ“, einer modernen Version des alten „Videodrome“-Themas, funktioniert die medientechnische Aufrüstung des Menschen, wenn auch erst nach einigen düsteren Turbulenzen. Am Anfang präsentiert Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh), eine allseits verehrte Spieleerfinderin, die nur selten unter Menschen ist, ihr neues Computerspiel. „eXistenZ“, das direkt an das zentrale Nervensystem angeschlossen wird, erfüllt die kühnsten Träume, benötigt allerdings Systemvoraussetzungen: einen Bioport, eine Art Stecker, der in den unteren Bereich der Wirbelsäule implantiert wird und der über eine Art Nabelschnur an den „MetaFlesh Game-Pod“ angeschlossen ist. Der Game-Pod – das Herz des Spiels – sieht aus wie eine lebende Niere und ist „vom Prinzip her ein Tier, das aus befruchteten Amphibieneiern entstanden ist, erweitert mit einer synthetischen DNS“. Im Spiel läuft man als nur bedingt freier „Game-Charakter“ herum.
Alles fühlt sich so echt an wie das wirkliche Leben, nur dass man ab und zu bestimmte Sätze sprechen muss, um im Spiel weiterzukommen. Wenn man sie nicht spricht, dann spricht es unkontrolliert aus einem heraus oder man beginnt plötzlich einen superekligen Amphibiensalat zu essen. Die Vorführung des Spiels wird jäh unterbrochen von einem Attentäter aus dem „Realistischen Underground“, der mit einer Pistole aus Fleisch, Knorpeln und Zähnen und der Parole: „Death to eXistenZ! Death to the daemonesse Allegra Geller!“ auf die Spielschöpferin und ihre Kollegen aus der Traumindustrie schießt. Leicht verletzt flieht Allegra Geller mit ihrem eher unbedarften Leibwächter Ted Pikul (Jude Law) und dem angeschlagenen Gamepod. Um festzustellen, ob der noch funktioniert, um ihm neue Energie zuzuführen, nicht zuletzt, weil sie spielsüchtig ist, müssen sie „eXistenZ“ spielen. Dafür braucht Ted Pikul allerdings erst mal einen Bioport.
In einer großartigen Tankstellenszene, mit einem wunderbaren Willem Dafoe in der Rolle des fiesen Tankwarts, bekommt er einen illegalen Anschluss gesetzt. Der funktioniert jedoch nicht, und der Tankwart erweist sich als Feind, der die Prämie kassieren will, den obskure Mächte auf Allegra Gellers Kopf angesetzt haben. Nach diversen Verwicklungen spielen Ted Pikul und Allegra Geller das Spiel, das sie in verstörende Gegenden führt und in dem sie neue Gameports – manche sind sehr klein und flutschen in den Körper rein, andere krank – ausprobieren, die sie auf andere Traum-im-Traum-im-Traum-Ebenen führen. Auch innerhalb des möglicherweise infizierten Spiels kämpfen die Agenten des realistischen Untergrunds gegen die Traumfabrikanten, und wenn man aus dem Spiel aufwacht, ist – wie in Fassbinders „Welt am Draht“ oder Lems „Futurologischem Kongress“ – nicht so klar, ob man nun im Wirklichkeitsfilm gelandet ist, in dem die Szene, mit der der Film begann, noch einmal variiert wird.
Mit dem vieldeutigen Satz „Are we still in the game?“, den ein erschreckter Spieler, der Angst hat, erschossen zu werden, spricht, endet der Film. Das Wirkliche erzeugt Angst, nicht das Spiel; die Simulation von Wirklichkeit in Zeiten, in denen der Begriff der Simulation möglicherweise auch deshalb nicht mehr so en vogue ist, weil er längst vom Wirklichkeitsfilmfilm oder der Doku-Soap überholt wurde. Man hat keine Angst davor, auf dem Trip hängen zu bleiben, sondern in der Wirklichkeit anzukommen. Für den, der den Satz so schön fragend-verwirrt-stoned spricht, wäre die Wirklichkeit der Tod.
„eXistenZ“ ist ein düster-schönes, zuweilen auch sehr komisches Kammerspiel, in dem sich Cronenberg sehr elegant immer wieder selbst zitiert. Jennifer Jason Leigh spielt durchgehend mit so einer angenehm zurückgenommenen Stonedness, die typisierten Game-Charaktere sind genial und auch komisch in ihrer reduzierten Spielweise zwischen Mensch und Computerspielfigur. Ziemlich toll ist auch die Ausstattung: Im ganzen Film gibt es weder Computer noch Monitore, weder Fernseher noch Telefonapparate; keine Armbanduhren, keine Markenturnschuhe, keine Anzüge, Jacketts, Krawatten und auch keinen Schmuck. „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob man überhaupt merkt, dass all diese Dinge fehlen“, sagt Cronenberg. Auch durch diesen Verzicht hat er seinem Film jedenfalls eine untergründig merkwürdige Stimmung gegeben. Neben tollen gibt es ganz große Momente in „eXistenZ“: zum Beispiel wenn Jude Law Jennifer Jason Leigh ängstlich nach der Infektionsgefährdung der neuen Öffnung im Fleisch, des Bioports, fragt und sie ihn als Antwort mit weit geöffnetem Mund anlacht, wenn Jude Law plötzlich an ihrem Bioport leckt, der aussieht wie ein Anus, und dann sagt, das sei nicht er, sondern sein Game-Charakter gewesen, oder wenn Jennifer Jason Leigh leise, in einem mühsam beherrscht getriebenen Tonfall fragt „Are you friendly?“, um ihn zum Mitspielen zu animieren, oder wenn Willem Dafoe über seine Analogie zwischen „God und mechanic“ so komisch kichert. Wenn man die Cronenberg-Homepage anklickt, sieht man den Kopf des Regisseurs, wie er sich im Atemrhythmus immer wieder in einen Reptilienkopf, genauer: den Kopf eines Mugwumps aus „Naked Lunch“, verwandelt. Darunter steht das Zitat: „I don't have a moral plan – I'm a Canadian.“
„eXistenZ“. R: David Cronenberg. Mit Jennifer Jason Leigh, Jude Law, Willem Dafoe, Christopher Eccleston, Ian Holm u.a. USA 1998, 88 Min.
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