: Die OSZE gerät zwischen die Fronten
Am Tschetschenien-Konflikt könnte das Gipfeltreffen scheitern. Boris Jelzin kommt nur zur Stippvisite. Die Neufassung des Vertrags zur Begrenzung konventioneller Rüstung (KSE) wird unterzeichnet ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich
Das Gipfeltreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), das heute in Istanbul begonnen hat, droht am Konflikt um Tschetschenien zu scheitern. Der Krieg in der russischen Kaukasusrepublik ist das dominierendeThema beim Treffen der 55 Staats- und Regierungschefs am Bosporus. Möglicherweise führt der Streit um den russischen Einmarsch dazu, dass es erstmals in der Geschichte der OSZE keine gemeinsame Schlusserklärung geben wird. Russlands Präsident Jelzin, der sich kurzfristig entschlossen hatte, doch persönlich nach Istanbul zu kommen, statt nur seinen Ministerpräsidenten Putin zu schicken, plant nach Angaben aus der russischen Delegation, bereits heute Nachmittag wieder abzureisen. Nachdem er gestern mit dem gastgebenden Präsidenten Demirel zusammengetroffen war, soll heute noch ein persönliches Gespräch mit US-Präsident Clinton folgen.
Aus russischen Delegationskreisen verlautete allerdings, dass Jelzin eine wie auch immer geartete Erwähnung Tschetscheniens in der Schlusserklärung, der so genannten Charta von Istanbul, nicht tolerieren werde. „In diesem Fall“, so ein Mitglied der russischen Delegation, „wird Russland die Schlusserklärung nicht unterzeichnen“. Da OSZE-Dokumente nur bei einstimmiger Beschlussfassung Gültigkeit erlangen, wäre damit der Gipfel geplatzt.
Obwohl das Vorgehen der russischen Armee den Verhaltenskodex der OSZE, dem Russland wie alle anderen OSZE-Mitglieder in der Vergangenheit zugestimmt hat, eindeutig verletzt – insbesondere wirft der Westen Jelzin vor, beim Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung werde die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht beachtet –, weist die russische Seite die Kritik als völlig unberechtigt zurück. Zum einen handele es sich in Tschetschenien um Terrorismusbekämpfung auf eigenem Territorium und dies gehe den Westen ohnehin nichts an. Überdies erinnern russische Delegierte an das Vorgehen der Nato im Kosovo und die ständigen Vorstöße türkischer Truppen auf irakisches Gebiet und verlangen, dass hier nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Tatsächlich räumen auch westliche Diplomaten ein, dass nun das völkerrechtlich problematische Vorgehen der Nato im Kosovo-Konflikt auf die USA und die EU-Staaten zurückfallen könnte.
Auch die Führung in Grosny könnte ihren Teil beitragen, um für einen diplomatischen Eklat zu sorgen. In der tschetschenischen Hauptstadt kursierten seit Tagen Gerüchte, Ministerpräsident Aslan Maschadow plane, zum Gipfel anzureisen, die Agentur Interfax meldete sogar, er halte sich bereits in Istanbul auf. Damit stünde die Frage offen, welche Rolle man Jelzins Gegenspieler auf dem diplomatischen Parkett einräumen kann. Aus Kreisen der inoffiziellen tschetschenischen Vertretung in Istanbul hieß es am gestern, Maschadow werde nicht selbst anreisen, sondern seinen Stellvertreter schicken.
Trotz solch aktueller Verwicklungen ist es den OSZE-Diplomaten in den letzten Tagen gelungen, den wichtigsten rechtsverbindlichen Vertrag, der auf dem Gipfel unterschrieben werden soll, fertigzustellen. Der Vertrag zur Begrenzung konventioneller Rüstung (KSE-Vertrag), der erstmals 1990 noch unter den Bedingungen der beiden Militärblöcke abgeschlossen wurde, musste den veränderten weltpolitischen Bedingungen angepasst werden. In diesem Vertrag werden Obergrenzen für die Zahl der Panzer, Kampfflugzeuge und anderer schwerer Waffen in allen Vertragsstaaten festgelegt. Außerdem wird bestimmt, wo diese Waffen stationiert werden dürfen. Russland hat vor kurzem bei der OSZE offiziell angezeigt, dass es das erlaubte Kontingent an seiner Südflanke (Tschetschenien) vorübergehend überschritten habe, erklärte aber zugleich, die Waffen nach erfolgreicher Terrorismusbekämpfung wieder zurückziehen zu wollen. Hier gibt es, „nach sehr, sehr schwierigen Verhandlungen“, wie ein deutscher Teilnehmer sagte, nun eine Einigung zwischen allen Mitgliedsstaaten, die von den Staats- und Regierungschefs unterschrieben werden kann.
Alle anderen Erklärungen, insbesondere die Charta für europäische Sicherheit und die Schlusserklärung, hängen noch ab vom Umgang mit dem Tschetschenien-Problem. Auf westlicher Seite herrscht offenbar noch Unschlüssigkeit, wie man sich verhalten soll. Lässt man es zum Eklat kommen und beschließt gar, die Mitgliedschaft Russlands in der OSZE, wie zuvor die Serbiens, vorübergehend zu suspendieren? Man könnte das Thema Tschetschenien auch offiziell ausklammern und stattdessen versuchen, die Russen lediglich hinter verschlossenen Türen zu bearbeiten. Das Beispiel Serbien, so verbreiten OSZE-Diplomaten, ermutige allerdings nicht gerade zu einem harten Kurs. Die Suspendierung Serbiens habe damals nichts bewirkt, außer dass sich die OSZE damit der letzten minimalen Einflussmöglichkeiten beraubte.
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