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Kleine Räume sind sensibel

Aufführungen als Variationen in Empfindungsräumen und Realzeit: Beim Spielart-Festival in München wurden die Schauspieler auf „Zeitreisen“ geschickt  ■   Von Sabine Leucht

Sie sind jung, höchstens 95 Jahre alt. Und so sehr der Tod auch nach ihnen giert – ganz kriegen wird er sie nie. Darum singt der YoungHeart Chorus aus Massachusetts bei seinem ersten Deutschlandgastspiel aufmüpfige Lieder; und das Münchner Festivalpublikum freut sich über diese Hymnen an das Leben, die Wooster-Group-Mitglied Roy Faudree zu verdanken ist. Per Diaprojektor lernt man die greisen Sänger als Kinder kennen und Chormitglieder, die der Tod nicht mehr mitsingen ließ. Weil aber die singenden Senioren keine „echten“ Schauspieler sind, hat jeder seine private Bühnenzeit strukturiert. Kein Zeit-Raum entsteht an diesem Abend. Zeitzonen allenfalls, in denen Einzelne etwas vorführen.

Als „Zeitreisen“ hat Tilmann Broszat, der auch dieses dritte Spielart-Festival leitet, die geladenen Aufführungen angekündigt. Unter den Spielarten des Theatralen, die alle zwei Jahre nach München kommen, waren diesmal Extremzeitsportler wie Forced Entertainment mit einer 24-stündigen Alptraumvermeidungs-Show. Und die Teddy Bear Company aus Italien machte mit sieben Minuten „Peepshow“ kurzen Prozess. Doch hier ist Zeit Realzeit und meint nichts als Dauer. Spannender wird es dort, wo durch Verzerrung realer Vorgänge, Rhythmisierung und Synchronisierung von Abläufen und Bildern spezifische Spiel- und Empfindungsräume entstehen. Die New Yorker Builders Association und das Architektenduo Diller + Scofidio können dieses Vorgehen sogar thematisch begründen: „Jet Lag“ handelt von Donald Crowhurst, der 1969 bei einer Weltumsegelung „im Raum verschwunden“ ist. Und von Sarah Krachnov, die innerhalb eines halben Jahres 167-mal zwischen New York und Amsterdam pendelte und schließlich am Jet Lag starb. „Aus der Zeit gefallen“, diagnostizierte Virilio.

Den Segler, längst im Atlantik verloren, sieht man den Stillstand dramatisieren und „action packed details“ für die Medien inszenieren. Er macht die Bilder, die man hinten vorbeiflimmern sieht. Und obwohl er drauf ist, drin ist er nie. Die Jet-Laggerin und ihr Enkel allerdings agieren nicht nur vor virtuellen Warteräumen und Rolltreppen. Sie werden Teil davon. Minimal Music, Flughafengeräusche zum Abheben und die sachten Bewegungen von Mensch und Bild sind so fein aufeinander abgestimmt, dass das Gesamtpaket beim Zuschauer ankommt wie in Watte gebettet. Hypnotisch könnte man die Wirkung dieser Aufführung nennen und damit meinen, dass man Huckepack genommen wird und eine Weile in der Phantasie der Theatermacher wohnen darf. Dort ist dann alles echt – vor allem das Künstliche.

So sind die Räume beschaffen, durch die man dieser Tage in München am schönsten reisen kann. Räume, die nicht abgeschritten werden können. Die weder die neue Geschichte enthalten noch selbst neu sind, außer als Erlebnis. Räume, die entstehen, wenn das Spiel seiner eigenen Logik folgt. Da ist es auch nicht wirklich ein Problem, wenn – wie bei Showcase Beat Le Mot – ein Tennismatch zum Thema Arbeit sich arg in seine Gags einpuppt. Als hätten die sechs Jungs aus Gießen zu lange nur noch als Clique gedacht. Einen großen Preis gewinnt ihr „Grand Slam“ wahrscheinlich nicht – doch das Spiel mit sprechenden Zelten und schlägerschwingenden Rollstuhlfahrern besitzt Schönheit, weil es daran glaubt, dass es sich zum Beat von Tennis und Techno zu tanzen lohnt. Egal, ob man dabei eine gute Figur macht oder nicht. Wie einer von ihnen schreibt, „gibt es immer noch viele Sachen in dem Stück, die ich nicht verstehe, bei denen ich aber ein gutes Gefühl habe!“

Wenn die Bühne als Ganzes eine „andere“ Welt simuliert, von der man nicht mehr lassen mag, kommt dann das Spielart-Motto „Schauspieler“ zu kurz? Anders gefragt: Wie gewichtig muss der Einzelne sein, um nicht ins Gewicht zu fallen? Eimuntas Nekrosius' „Makbetas“ lässt eine symbolschwangere Welt entstehen, die manche pathetisch finden. Doch man kann durch seine Bilder hindurchgehen wie durch geheimnisvolle Türen, die unvermutet offen sind. Bis man vor einer Art Altarbild zur Ruhe kommt, das schwankende Holzbalken, kahle Bäumchen und befremdliche Geräusche um innere Konflikte gruppiert. Die sind Sache der Schauspieler. Und stimmen sie nicht, bekommt das Ganze Risse.

Räume wollen erspielt werden. Dann erzählen sie ein wenig von sich selbst. In andere Räume geht man einfach hinein und beginnt selbst zu sprechen. Vielleicht liegt es am Gewicht des Themas, weshalb sowohl für „Mendel Shainfeld“ als auch für „The Anthology“ solche Räume gewählt wurden: In einem Zugabteil erzählt Francois Béchu 24 Mitreisenden von Auschwitz und den Deutschen, an die sein Vater noch glaubte. Reicht lächelnd Fotos herum und jedem die Hand, als glaube er auch. Und macht wie seine israelische Kollegin Smaada Yaron vom Akko Theater aus Zuschauern Situationszeugen. In ihrem Salon spielt Selma Grünwald Klavier, bei Kerzenschein und Räucherstäbchen und will eigentlich gar nicht sagen, dass „Arabs“, „Russians“, Kosovaren „nette Leute“ sind. Denn sie „stinken ein bisschen“. Die in Bildung und Eleganz gepackte Bosheit der Holocaust-Überlebenden kreiert in Realzeit und -raum eine zerbrechliche Nähe, die später am lauten Hinausschreien psychischer Deformationen zerschellt. Fühlraum geschlossen wegen Eindeutigkeit! Gerade kleine Räume sind sehr sensibel.

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