Der Tod kommt auch nach little Meißen

■  Der Lehrermord im Heile-Welt-Gymnasium hat ein Schema: Vermeintlicher Versager rebelliert gegen das Auslesesystem Schule

Der Präsident nannte die Tat „Piercing für die Seele der Nation“. Bill Clinton meinte das Shooting von Littleton, bei dem am 20. April dieses Jahres 15 Menschen ihr Leben ließen. Zwei Schüler hatten schwer bewaffnet ihre Columbine High School nahe Denver (Colorado) gestürmt. Sie erschossen ein Dutzend Mitschüler, brachten den beliebtesten Lehrer und schließlich sich selbst um. Die Teenie-Mörder Eric Harris (18) und Dylan Klebold (17) stürzten die Nation in tiefe Zweifel über uramerikanische Institutionen: das Recht etwa, eine Waffe zu tragen, oder die Highschool als die Karriereagentur der Staaten.

Ein gutes halbes Jahr nach der Tat weiß man zwar viel über den präzise geplanten Amoklauf. Das Mysterium aber bleibt. Denn die mit Bomben bewaffneten Bestien, die Killer-Kids, die lachten und scherzten, als sie Mitschüler exekutierten, sie sind doch auch die netten Jungs von nebenan.

Die Tat der beiden Schüler entzieht sich jedem Muster, mit dem „Gewalt in der Schule“ normal zu erklären ist. Schulpolizei, Überwachungskameras, öffentliche Notrufsäulen – all das, was auch in Deutschland gerne als Antwort auf „amerikanische Verhältnisse“ in den Schulen genannt wird, es schreckt Attentäter Marke Harris und Klebold nicht ab. Zieht es sie vielleicht sogar an? Die geheime Bundespolizei FBI ermittelt in Littleton, um falschen Reaktionen auf Schulmorde vorzubeugen:

– Denn Schulen setzen zunehmend schwer bewaffnete Polizeibeamte als Aufsicht ein, Amokläufer treibt aber häufig gerade das Motiv an, selbst getötet zu werden.

– Auf immer mehr Schulgeländen surren rund um die Uhr Überwachungskameras. Überlebende Todesschützen gestehen aber, sie wollten durch ihre Tat berühmt, sprich: dabei gefilmt werden.

– Schulen untersagen Kultklamotten wie die Trenchcoats der Gruftis, Attentäter aber verschwinden in der Menge – bis zu ihrem großen letzten Auftritt.

Die so schwer vorhersehbare Gewalt jugendlicher Amokläufer hat wahrscheinlich viel mit den Orten zu tun, an denen sie fast immer auftritt – der Highschool in der amerikanischen Provinz. Hier trimmt der weiße Mittelstand seinen Nachwuchs für die Zukunft. Highschools sind beherrscht vom umfassenden Wettbewerb: Wer sich intellektuell, sportlich und charakterlich durchsetzt, hat später beste Chancen. Ein Klima freilich, in dem Loser erst entstehen.

Die Gewalt von Littleton hat nichts zu tun mit der „normalen“ Gewalt an Schulen: Hauen und Stechen prägt zwar die verwahrlosten und sozial wie ethnisch gespaltenen suburb schools. Aber es mündet nicht etwa folgerichtig im letalen Highnoon. Wenn die amerikanische Entwicklung zeigt, dass Gewalt nicht gleich Gewalt ist, dann muss auch hierzulande die Debatte über „amerikanische Verhältnisse“ anders geführt werden. Das Stilett im Ranzen, die Pöbelei gegen den Lehrer, Anmache und Vergewaltigung von Mitschülerinnen, das gibt es auch hier – und zwar länger, als es viele glauben, die sich nach Meißen über das Pulverfass Schule empören. In Köln, München, Berlin und Hamburg ist Gewalt gang und gäbe. Das hat System. Das Chaos regiert besonders am unteren Ende der Schulformen, den Hauptschulen der Großstädte, wo man wenig erfolgreich versucht, den deutschen sozialen Bodensatz zusammen mit sprachlich benachteiligten Zuwandererkindern zu beschulen.

Mit den tödlichen Messerstichen von Andreas S. gegen seine Geschichtslehrerin in Meißen ist nun die finale Gewalt in Deutschland angekommen – und zwar an der Sonnenseite des Schulsystems. Dass das Heile-Welt-Gymnasium Franziskaneum Schauplatz eines Paukermordes werden würde, hätte keiner erwartet. Die Parallelen der Bluttat zu Littleton sind erstaunlich:

– Wie in der Mittelklasse-Highschool erwischte es keine Brennpunktschule, sondern eine Karriereanstalt des Bürgertums.

– Auch in Meißen war der Täter ein vom Schüler-Mainstream gehänselter Außenseiter – aber beileibe kein objektiver Versager ganz ohne Freunde.

– Andreas S.' Vorstellungswelt dürfte nach dem, was man weiß, wie die von Klebold und Harris stark von Gewaltvideos geprägt gewesen sein.

– Andreas S. kündigte seine Tat vor Freunden an, die beiden Littleton-Attentäter spielten auf ihrer Website auf den Amoklauf an.

Was pierct die Seele des Bildungsbürgers?

Es spricht vieles dafür, dass die jugendlichen Täter ihre Wut auf eine Institution ausließen, die ihnen die Anerkennung verweigerte: in Form von Noten, von einer Position im sozialen Gefüge und von Aufstiegschancen. Der Messerstecher von Meißen gab als erstes Motiv für den Mord an seiner Lehrerin an: „Ich habe sie gehasst.“ Auch Klebold und Harris waren voller Hass. Sie hatten wenig Erfolg – anders als die auf Karriere abonnierten „Jocks“, die mentalen und sportlichen Alpha-Tierchen ihrer Highschool. Andreas S. musste mit ansehen, wie er den Anschluss selbst in Meißens Rest-Gymnasium verlor, einer Einrichtung, die immer mehr Schüler der zweiten Meißener Oberschule St. Afra aufnimmt, weil daraus ein Hochbegabten-Gymnasium werden soll. Erst kürzlich protestierten Eltern gegen die daraus resultierende Überlastung des Franziskaneums.

In little Meißen war alles weniger amerikanisch als in Littleton: weniger Tote, weniger Waffen, weniger Planung, weniger Konkurrenz in der Schule. Auch die Nachahmungstaten, die in den USA seit April ein halbes Dutzend Tote an Schulen kosteten, fallen hierzulande kleiner aus. Irgendwo in Westdeutschland schlägt ein 7-jähriger seiner Referendarin vor, die Klassenlehrerin zu töten. In einem Berliner Gymnasium kritzelt jemand zwei Tage nach Meißen in bitterschwarzer Ironie „Tötet alle Lehrer“ an die Tafel. Das reicht nicht, um in die Medien zu kommen. Damit heizt niemand die Debatte um die Ursachen finaler Schulgewalt an. Die Seele des deutschen Bildungsbürgers wird erst dann gepierct sein, wenn in einer der Top-Schulen im Westen der Republik, vielleicht an einem bayerischen Gymnasium, ein Schüler gegen die Verhältnisse Amok läuft. Christian Füller