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Ich will die Welt ertanzen

Von gewalttätigen Kindern reden alle. Die vielen anderen, die sich täglich für ihre Ziele abrackern, werden kaum wahrgenommen. Im Leben wie im Buch  ■   Von Gabi Trinkaus

Da es kein Kinderballettbuch mit einem männlichen Helden gibt, bin ich auf „die kurze Geschichte eines Prinzen“ ausgewichen. Hier können sich Jungen wiederfinden, die sonst in allen Ballettbüchern ein Schattendasein fristen.

Dies Buch ist auch eine Geschichte für die Zeit danach. Der achtunddreißigjährige Walter sitzt auf dem Steg des Lake Magarete, einem alten Familienbesitz einer auseinanderbröckelnden Familiendynastie, und reflektiert seine Kindheit. Als Kind ist er glücklich gewesen. Seine Tante sorgte dafür, dass Musik und Literatur sein Leben bestimmten. Mit Susan und Mitch ging er in die Ballettschule. Damit blieb ihm das Schicksal erspart, als seltsames Kind mit komischen Interessen zum Einzelgänger zu werden. Zu dritt lebten sie eine verzauberte Kindheit. Was außerhalb passierte, tangierte sie nicht.

Der Vietnamkrieg erschütterte Amerika, sie merkten es nicht, auch nicht, dass Walters Bruder todkrank war. Der Ballettsaal war eine einsame Insel. Hier galten andere Gesetze. Alles diente der Schönheit, Ordnung und Würde, diktatorisch durchgesetzt von einem Lehrer. Sein Urteil war ihr Schicksal. Walter konnte das akzeptieren. Seine Wunden pflegte er mit Musik, tauchte ab in die Welt von Don Carlos.

Sehr gekonnt zeigt Jane Hamilton, wie emotional klassische Musik sein kann, wenn man es zulässt. Walters Schicksalsmelodie war Schwanensee, seine Hoffnung der Nussknacker. Dazwischen liegt das langsame Begreifen der eigenen körperlichen Möglichkeiten und des Geschlechts. Er verliebt sich in Mitch.

Mit wachsendem Alter kommt die Stunde der Wahrheit. Er war der Schlechteste im Team. Und wenn seine Freunde jedes Jahr Weihnachten den Nussknacker tanzten, ging er leer aus. Bis sich eine Provinzbühne seiner erbarmte. Die Demütigung als Höhepunkt seines Traums. Da nahm er sich eines Tages seine Rolle, zog ein Schwanenkostüm an und tanzte den Schwan. Das war das Ende. Seitdem fühlt sich Walter entwurzelt. Als Kind war er glücklich gewesen. Er hatte es nicht festgehalten. Sein Leben lang würde er dem verlorenen Gefühl nachspüren.

Dieser sensible Roman aus Amerika für Jugendliche und Eltern stimmt nachdenklich. Eine Kindheit wird geschildert, jenseits von Gewalt, Drogen, Langeweile und Politik. Als Eltern könnte man aufatmen. Wunderschön die Passagen, in denen Musik und Tanz in Walter zu nachvollziehbaren Glücksgefühlen verschmelzen. Liebevoll begleitet Jane Hamilton ihren Helden. Nicht einmal kommt das Gefühl auf, dass sie die Geschichte eines Versagers schildert. Einer, der nach den Sternen gegriffen hat, dessen Absturz hart ist und der nicht ankommen kann, weil er erst mal die Zeitungen der letzten zwanzig Jahre nachlesen muss, um zu wissen, wo er steht. Auch eine Kindheit gebettet in Kunst gebiert keine Lebenskünstler.

Jane Hamilton: „Die kurze Geschichte eines Prinzen“, Rowohlt, ab 15 Jahre, 45 DM

Rezept zum Unglücklichsein

„Prima Ballerina“, dreibändig, fast fünfhundert Seiten dick, ist eines der wenigen Bücher aus der Welt des Balletts, die man mit Spaß lesen kann. Die dargestellten Charaktere sind überzeugend und lebendig. Leider hat es wie alle Ballettbücher einen abschreckend pinkfarbenen Umschlag und wird es darum schwer haben, entdeckt zu werden. Spielort ist London, und logischerweise heißt das Traumziel Royal Ballett Company. Geschildert wird die Geschichte der elfjährigen, schüchternen Mo. Nur aus Spaß geht sie in die kleine Ballettschule ihres Dorfes und spürt eines Tages, dass sie nichts anderes will als tanzen.

Nachdem sie den Widerstand ihrer eher praktisch veranlagten Eltern überwunden hat, besteht sie eine furchterregende Aufnahmeprüfung an einer berühmten Ballettschule in London. Sie muss ihre Eltern und Geschwister verlassen und zu ihrer alten, ihr fremden Großtante nach London ziehen. Zuerst ist sie völlig unglücklich. Nichts entspricht ihrem Traum. Weder der mit normalen Schulfächern vollgestopfte Stundenplan der Schule noch die Ballettstunden, in denen sie kritisiert statt gelobt wird. Die vornehme Steifheit ihrer Großtante ersetzt nicht ihre lebendige Familie. Ihr geringes Selbstbewusstsein sorgt dafür, dass bei jeder Schwierigkeit ihr Ziel, Ballerina zu werden, in unerreichbare Ferne zu rücken scheint. Weil sie so schüchtern und unsicher ist, hat sie Angst vor Veränderungen.

Darum freut sie sich auch nicht, dass ihre Kusine aus Australien nach London kommt, um Zimmer und Schule mit ihr zu teilen. Es wird genauso, wie Mo es befürchtete. Libby ist selbstbewusst und begabt. Alles wofür Mo kämpfen muss, scheint ihr in den Schoß zu fallen, und alles was Libby anstellt, muss Mo auslöffeln. Selbstverständlich ist Libby die Freundin eines der wenigen Jungen der Klasse. Es gibt Krisen mit der Tante, der Schule, die spannend und überzeugend geschildert sind. Es gibt aber auch tief empfundene Freude über eine gelungene Pirouette und ein Lob der Lehrerin.

Ihren ersten öffentlichen Auftritt feiert Mo mit dem Nussknacker. Sie darf nach hartem Kampf ein Mäuschen tanzen. Erstaunlich, welche Durchsetzungskraft die sensible Mo entwickeln kann, wenn es um ihr Lebensziel geht.

In allen Ballettschulen der Welt ist der Nussknacker zu Weihnachten ein absolutes Muss. Und wer die Spielpläne der Balletthäuser zu Weihnachten studiert, wird seine Buchhelden auf den Bühnen wiederfinden können. Der Wettstreit um die Rollenverteilung findet in allen Büchern und Realitäten statt. Für die künftigen ZuschauerInnen gibt es das Märchen auch als Hörspiel auf CD. Die Geschichte ist spannend bearbeitet, und im Hintergrund spielt dazu in den Szenen Tschaikowskys Musik.

Jean Richardson: „Prima Ballerina!“, Arena Verlag, ab 10 Jahre, 15 DM

„Der Nussknacker“, Hörspiel von Keyserlingk, Musik Tschaikowsky, CD, Patmos, ab 6 Jahre, 24,95 DM

Zehn Jahre tanzen: Was bleibt?

Carolina ist sechzehn und Schülerin an der Prager Schauspielschule. Den schwierigen Weg dahin schildert sie in ihrem Lebenslauf, einer Hausaufgabe, die unversehens zu einem Fazit ihres jungen Lebens wird. Im Prag der Sechzigerjahre schüttelt die Politik die Familie durcheinander. Der akademische Vater wird Tankstellenbesitzer auf dem Lande. Carolina ist traurig. Die kulturbegeisterte, sympathische Großmutter auch. Die Mutter widmet sich der Rosenzucht. Die Ballettschule des kleinen Ortes söhnt Carolina mit ihrem Vertriebenenschicksal aus. In der Schule fühlt sie sich allein, obwohl sie die große Ehre hat, sofort in der Theatergruppe mitmachen zu dürfen. Sie hat nur eine stille Freundin und hätte doch lieber eine bunte Clique. So erklärt sie sich, dass sie so versessen darauf war, mit drei älteren Jungen auf den Kirchturm zu klettern. Auf dem Rückweg verunglückt sie schwer. Monate gehen übers Land, bis sie wieder gehen kann. Monate, in denen der schuldbewusste Lev Carolina besucht. Aus Pflichtgefühl wird Liebe, die von den Eltern wegen des großen Altersunterschiedes nicht akzeptiert wird.

Die Eltern erzwingen eine räumliche Trennung und schicken sie zu Großmutter. Weil Arbeit nun mal die beste Medizin gegen Verzweiflung ist, stellt sie sich in einer Ballettschule vor. Doch auch hier, an dem Ort früherer leichter Triumphe, muss sie der harten Realität ins Auge sehen. Niemals wird sie übers Mittelmaß hinauskommen. Ihr Hüfte ist zu eng, ihr Bein zu schwach, ihr Wille zu stark. Sie, die seit dem vierten Lebensjahr tanzt, muss sich sagen lassen, dass sie den Sinn des Tanzens nicht verstanden hat. Wieder geht ein Stück ihrer Welt unter. Selbsterkennung ist ein schmerzlicher Prozess. Aber hätte sie sonst erkannt, was sie wirklich will?

Ein dramatisches, durch die muntere, originelle Großmutter auch flottes Buch, an dem es sprachlich nichts auszusetzen gibt.

Iva Prochaskova: „Carolina. Ein knapper Lebenslauf“, Verlag Sauerländer, ab 12 Jahre, 28 DM

Spitzenwissen um Spitzenschuhe

Man muss nicht Französisch können, um Ballett zu machen. Man kann die vielen französischen Begriffe auch auswendig lernen. Einfacher geht es mit dem Minitaschenquiz. Mit Fragen von einfach bis schwer wird das Ballettwissen abgeklopft. Das freut auch den Französischlehrer.

Minitaschenquiz „Ballett“, ars Edition, ab 8 Jahre, 4,95 DM

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