: Brüche und Wunder
Auferstehung mit Understatement: John Neumeiers überragendes „Messias“-Ballett zu Händel und Arvo Pärt in der Staatsoper ■ Von Ralf Poerschke
Es ist ja derzeit kaum die Rede davon, wem wir diesen Millenniumstrubel ureigentlich zu verdanken haben: dem Stifter des Jahres Null, einem Herren namens Jesus. John Neumeier ist zweifelsfrei hierzulande der Richtige, um diesem Umstand eine kulturelles Großereignis zu widmen. Aber sein Beitrag beginnt vor Christi Geburt, die ganze Spannbreite des (theologisch-)menschlichen Dramas andeutend: mit dem Sündenfall. Lloyd Riggins und Niurka Moredo sind Adam und Eva, die hier eine 45-Grad-Schräge hinunterkullern, sich wiederfinden im kalten Diesseits, sich aneinander festklammern und voneinander fortstoßen und ungelenk erste (Tanz-)Schritte versuchen in der sterblichen Sphäre der Welt. Mit diesem Pas de deux, der die folgende Erlösungsgeschichte erst sinnvoll begründet, zitiert Neumeier sein Magnificat – und greift damit zwölf Jahre in der eigenen Werkgeschichte zurück.
Es tauchen in Mäntel gehüllte Gestalten auf; sie beschreiten den beschwerlichen Weg über die Steine, die die Bühne (sehr klug: Ferdinand Wögerbauer) einmal ganz umkreisen. Alles dient der Beschwörung einer archaischen Atmosphäre. Dabei befinden wir uns musikalisch mit Arvo Pärts „Veni, Sancte Spiritus“ aus seiner 1990 uraufgeführten Berliner Messe in der Gegenwart. Wenn die Ouvertüre zu Georg Friedrich Händels Messias erklingt, ist also schon vieles von dem, was an dem gleichnamigen Ballettabend in der Hamburgischen Staatsoper noch kommt, in einen größeren Zusammenhang gestellt.
Das ist gut so, denn dem ersten Teil, den Neumeier mit „Exil“ überschreibt und der ohne Kürzungen dem ersten Teil von Händels Oratorium folgt, fehlt ein wenig der zwingende Wille zum Stil. Die von Händel vorgegebene Dramaturgie aus abwechselnd lichten und dunklen Passagen verführt Neumeier zu bisweilen überpointiert kontrastierenden Bildern: So manche Totenerweckung ist elegisch bis an die Grenze zum Kitsch, während diverse Volkstanzabstraktionen, munter gehüpft und kopfgewackelt, arg aufgesetzt fröhlich wirken.
Allein kann dieses strapazierende Wechselbad der choreografischen Gefühle dem Protagonisten rein gar nichts anhaben. Lloyd Riggins vollbringt als Christus-Verkörperung wahre Wunder vollkommen unpeinlicher Präsenz. Nie schleicht sich falsches Pathos in seinen Tanz und seine Darstellung – und auch nie richtiges. Understatement dominiert, und die dramatischen Momente sind exakt dosiert. Die Messias-Figur ist mithin gerettet, und auch wenn Neumeier im Vorfeld betonte, er setze den Schwerpunkt aufs Ensemble, so konzentriert sich doch das meiste auf den formidablen Riggins.
Der zweite Teil gliedert sich in „Opfer“ und „Wiedergeburt“, und plötzlich findet Neumeier zu einer konsistenten Sprache, die gleichermaßen fesselt wie berührt. Die Kreuzigungsszene, der das Ensemble als wenig interessiertes Publikum beiwohnt, ist in ihrer gleichsam aufgewühlten Stille wohl die eindringlichste des Abends. Und die fast beiläufig inszenierte Wiedergeburt Christi im weißen Anzug beweist gerade in ihrer Bescheidenheit so etwas wie echte Größe. Händels gesamten zweiten Teil hat Neumeier gestrichen – bis auf den freilich unverzichtbaren „Halleluja“-Chor, den er hinter die Auferstehungsarie „The trumpet shall sound“ setzt und wiederum sehr sparsam choreografiert.
Händel ist damit zu Ende, nicht so das Ballett. Pärts „Agnus Dei“ beschließt es in aller Logik mit einem betörend-beklemmenden Bruch. Ein Zirkelschluss: Die bemäntelten Gestalten schreiten wieder über den Steinkreis, verlassen ihn und wandern wie in Zeitlupe mitten durch die Schar erstarrter Tänzer, die eben noch jubelten. Eine unerwiderte Umarmung ist das letzte Bild – so gar nicht das auf Effekt gedrillte Schmackes-Ende, an das wir uns bei Neumeier fast schon gewöhnt hatten. Sein Messias beweist vielmehr Haltung und inhaltliche Tiefe – und darüber kann man sich am Jahrtausendende wirklich freuen.
30. November, 1., 4., 5., 7. und 19. Dezember, 19.30 Uhr, Staatsoper
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen