: „Lärm macht Streß, und Streß macht krank“
Berliner Ökobilanz – Teil 3: Streß durch Umwelteinflüsse. Der individuelle Eindruck, das Leben in Berlin werde immer anstrengender, läßt sich nicht verallgemeinern. Lärm und Ozon sind die wichtigsten und belastendsten Umweltstreßfaktoren ■ Von Hannes Koch
Im Freundeskreis höre ich es oft: Der will sich vielleicht aus Berlin davonmachen, die ist schon dabei, woanders eine Wohnung zu suchen. Kleinere Städte wie Kassel, Bremen und Dresden stehen hoch im Kurs, aber auch die Großstadt Köln wird nicht selten als Umzugsziel mit Gemütlichkeitsbonus genannt. Ein anderer zieht ins Grüne nach Bohnsdorf an den Rand der Stadt, jene hat gerade einen Resthof im Mecklenburgischen erstanden, um wenigstens am Wochenende dem Moloch Großstadt zu entfliehen.
Die Begründung ist meist ähnlich: Berlin sei laut, hektisch, anstrengend, und seit der Maueröffnung habe sich das verstärkt. Auch mich selbst befällt aus diesem Grund von Zeit zu Zeit der Umzugsvirus. Was aber ist wirklich dran am Gefühl steigender Belastung in der Stadt? Ist das Leben in Berlin stressiger geworden seit der Wende?
Ob es etwas mit dem gesellschaftlichen Umbruch zu tun hat, weiß Hans-Joachim Kube nicht. Eindeutig aber sei, daß in jüngster Zeit mehr und mehr Schwerlaster durch den engen Birnhornweg in Marienfelde fahren, wo der pensionierte Kripobeamte wohnt. Mit Ausnahme von drei bis vier Stunden in der Nacht nähmen die LKWs gerne die Abkürzung durch die Wohnstraße, um zum Mercedes-Werk Marienfelde oder zum benachbarten Reichelt-Lager zu gelangen.
Der 66jährige Kube leidet an Schlafstörungen, ständiger Müdigkeit und Kopfschmerzen. Er hat Angst, wie schon früher einmal, an Nierenkrebs zu erkranken. „Lärm verursacht Streß, und Streß macht krank“, sagt Hans-Joachim Kube.
Der Pensionär möchte den Kraftfahrzeugverkehr vor seiner Haustüre beschränkt wissen und liegt deshalb seit geraumer Zeit mit dem Bezirksamt Tempelhof und dem Polizeipräsidium im Streit, die die Angelegenheit seiner Meinung nach nicht ernst nehmen. Ähnliche Erfahrungen mit Autos und Behörden haben in den vergangenen Jahren 24 BerlinerInnen gemacht, die jetzt mit Unterstützung der Kampagne „Lärmschutz gegen Luftschmutz“ vor das Verwaltungsgericht ziehen, um in ihren Straßen Tempo 30 oder ein Nachtfahrverbot für LKWs durchzusetzen.
In einigen Fällen ist der Zusammenhang zur Öffnung der Mauer und dadurch ausgelösten Zunahme des Autoverkehrs ganz eindeutig: Zum Beispiel der Spandauer Damm in Charlottenburg und die Silbersteinstraße in Neukölln haben sich seit 1989 zu lärmigen Katastrophengebieten entwickelt. Zehntausende von Fahrzeugen auf ihrem Weg von Ost nach West und umgekehrt machen die Nacht zum Tag und den Tag zur Qual.
Vermehrt beschweren sich die AnwohnerInnen dabei über die unmäßig lauten Sirenen der Polizei- und Feuerwehrfahrzeuge. Mit einiger Berechtigung: Nach Informationen der im baden-württembergischen Philippsburg ansässigen Firma Martin, die sämtliche Feuerwehren ausrüstet, strahlen die Martinshörner eine Lautstärke von rund 111 Dezibel (A) ab. Das entspricht dem Lärm eines in unmittelbarer Nähe kreischenden Düsentriebwerks. Zum Vergleich: Die sogenannte Zimmerlautstärke bewegt sich zwischen 50 und 60 Dezibel.
Viele Menschen haben den Eindruck, daß die Hörner in den vergangenen Jahren lauter geworden sind. Doch dem ist nicht so: Nach Angaben des Herstellers wurde der Schallpegel seit 1958 nicht mehr erhöht.
StreßforscherInnen erklären diesen Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Realität so: Das Streßempfinden beim Menschen ist nicht nur von dem auslösenden Reiz und der individuellen Belastungsgrenze abhängig, sondern auch davon, was eine bestimmte Person bereit ist, zu ertragen. Wenn also Sensibilität und Bewußtsein für störenden Lärm zunehmen, kann sich auch die Streßreaktion steigern, obwohl der objektive Reiz nicht stärker geworden ist.
Eine Verschiebung der individuellen Werte und persönlichen Faktoren kann andererseits natürlich auch dazu führen, daß ein unveränderter Schallpegel als weniger anstrengend empfunden wird. Aufgrund dieser Subjektivität des Streßempfindens sind allgemeine Aussagen über eine möglicherweise zunehmende Lärmbelastung denn auch kaum möglich. In Ermangelung tragfähiger Untersuchungen mag Streßforscher Peter Walschburger von der Freien Universität nicht beurteilen, ob die Mehrheit der Bevölkerung sich durch Straßenlärm heute mehr gestört fühlt als früher.
Nicht nur wegen der Abhängigkeit von der individuellen Einschätzung, sondern auch infolge der unvollständigen Datenbasis läßt sich die Frage kaum beantworten, ob der Straßenlärm als Streßfaktor in Berlin seit 1989 wichtiger geworden ist.
Zahlen, die eine flächendeckende und verschiedene Jahre vergleichende Beurteilung der Lärmsituation zuließen, seien nicht verfügbar, meint Dieter Melde, Leiter des Referats für Lärmbekämpfung bei der Umweltverwaltung. Schätzungsweise geht er aber davon aus, daß der allgemeine Autokrach zugenommen habe, weil einfach mehr Fahrzeuge unterwegs seien.
Wolfgang Schönpflug vertritt die entgegengesetzte Auffassung. Der Psychologieprofessor der Freien Universität und Vorsitzende einer Expertengruppe für Lärmwirkungen beim Umweltbundesamt vermutet, daß der Verkehrslärm trotz steigender Autozahl allgemein abgenommen habe. Zum Beispiel seien die Motoren der Fahrzeuge und Baumaschinen viel leiser geworden. Diese generelle Aussage treffe natürlich nicht überall zu: „Gerade im Osten gibt es in manchem früher verschlafenen Kiez heute eine riesige Verlärmung.“
Klarer ist da schon, welche gesundheitlichen Auswirkungen der Krach grundsätzlich haben kann. Die Psychologieprofessorin Herta Flor von der Humboldt-Uni setzt ihre Testpersonen in Laborexperimenten einer Lautstärke von 95 Dezibel aus, was zur Erhöhung des Blutdrucks und zu einer Beschleunigung des Herzschlages um bis zu 30 Schläge pro Minute führt.
Permanente Belastung mit Straßenlärm könne Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche und auch „chronischen Bluthochdruck“ zur Folge haben, so Flor. Folgender Umstand ist im übrigen eng mit dem Entstehen von Streß verbunden: Die betreffende Situation wird als unkontrollierbar empfunden. Und, so sagt die Psychologin: „Straßenlärm kann man nicht kontrollieren.“ Er läßt sich nicht einfach abschalten.
Erschwerend und für einzelne Menschen streßfördernd kommt seit einigen Jahren die steigende Ozonbelastung hinzu, die ebenfalls in erster Linie der Autoverkehr verursacht. Mittlerweile ist es nicht mehr ratsam, bei sonnigem Wetter am späten Nachmittag oder abends im Wald zu joggen. Gerade zu diesen Zeiten aber hat die arbeitende Bevölkerung Muße, sich körperlich zu betätigen.
Zum einen kann also der erzwungene Verzicht auf eine liebgewonnene Gewohnheit, die ozonbedingte Unsicherheit im traditionellen Tagesablauf zum Streßfaktor werden. Andererseits aber „bauen sportliche Aktivitäten Streß ab“, erklärt Psychologin Herta Flor. Das Ozon aber verstopft dieses Ventil. Das Ergebnis: Der Streß in der Stadt steigt.
Streßforscher Walschburger ist jedoch daran gelegen, die Rolle der Umwelteinwirkungen zu relativieren. „Lärm und Abgase sind nicht so entscheidend.“ Soziale Veränderungen, Brüche im Arbeits- und Familienleben seien viel wichtigere Streßfaktoren.
Insofern kann man sagen, daß die gesamte Bevölkerung von Ostberlin während der vergangenen fünf Jahre extrem gestreßt wurde. Alles bis zum 9. November 1989 Beständige erfuhr und erfährt einen tiefgreifenden Wandel. Völlig unkontrollierbar brach die Treuhandanstalt über die Kombinate herein, der Alteigentümer über Haus und Hof, die Gauck-Behörde über langjährige Freundschaften.
Deshalb leiden 16 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung unter schweren Angsterkrankungen, wie ForscherInnen der Uni Dresden 1994 ermittelten. Sie hatten 2.000 Menschen zwischen Elbe und Oder befragt, wie häufig bei ihnen Streßsymptome wie Hitzegefühle, Herzrasen oder Magenbeschwerden auftreten.
Im Westen litten an Angsterkrankungen demgegenüber nur sieben Prozent der Bevölkerung. Auf Westberlin läßt sich diese niedrigere Ziffer wahrscheinlich aber nicht übertragen, denn, so Peter Walschburger, auch dort gibt es „kaum einen Berufsbereich, wo nicht ganz dramatische Strukturveränderungen stattgefunden haben“. Als Beispiel nennt Walschburger verwaltungsmäßige Umgestaltungen seines eigenen Arbeitsfeldes, der Psychologischen Institute an der FU.
Zum Schluß die gute Nachricht: Soweit extreme seelische und körperliche Belastungen während des Lebens als eine mögliche Ursache für den vorzeitigen Tod betrachtet werden können, scheinen die Lebensverhältnisse in Berlin seit 1989 angenehmer geworden zu sein. In den Westbezirken starben 1994 statistisch betrachtet 13,1 von 1.000 Menschen, während es 1989 noch 14,4 gewesen waren. Im Osten stieg die Zahl von 10,4 (1989) zunächst auf 10,8 (1991), um seitdem auf 9,3 statistische Tote im vergangenen Jahr herabzusinken.
In einer Woche: Die Berliner Luft
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