: Nachschlag
■ Wenn Frauen zu laut singen: Vermooste Vlotem im SO 36
Gelegentlich kommen Talentschuppen und Talente zusammen. Manchmal scheiden sich auch die Geister daran. So geschehen gestern im legendären Unart in der Oranienstraße. Der Ort ist bekannt dafür, daß Unbekannte dort zum ersten mal aus dem Untergrund – für die Unartmutter Charla Drops ist damit das unterirdische Kanalsystem gemeint – auftauchen, ihren Kopf in die Luft strecken und Draußen mit Drinnen vergleichen. Normalerweise ist es die sogenannte Kleinkunst, die im Unart aus der Taufe gehoben wird. Gestern aber gab es eine selbstbezeichnete „Rock & Roll“-Band, die ihr Können anpries. An den Mut der PunkmusikerInnen erinnert, womit Hannie Bluum und Libôjah Shnukki – alias Vermooste Vloten – sich auf der Bühne präsentieren. Singen jeht nich, den Takt halten ist ebenfalls äußerst schwer, und das Repertoire der Gitarrengriffe ist derzeit noch äußerst begrenzt. Mit den Titeln der Stücke liegen sie aber schon richtig: „Polka for Christian Klar“, „Born in the saddle“ oder „Song for Kuttner“ – das ist doch was! Obercool stehen die beiden im Girlie-Verschnitt auf der Bühne und lassen sich durch vergessene Texte und gerade nicht präsente Melodien nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich hatte Hannie Geburtstag, und das ist auch nicht üblich, daß man sich da selbst ein Ständchen spielen muß. Als echte musikalische Bereicherung assistierte beim letzten Stück dann die „Gastgitarristin Manuela“, deren lange Haare heutzutage auch kein Attribut der Weiblichkeit mehr sind. Denn daß es sich bei ihr um einen Typen handelt, verraten die libidinöse Haltung zum Instrument und der breitbeinige Stand sofort. Musikalisch erinnert das Ganze im weitesten Sinne an die sonoren Songs der Achtziger-Jahre-Band „Young Marble Giants“, aber der Vergleich ist ein echtes Kompliment.
Ursprünglich war geglaubt worden, daß die beiden vom Frauenbonus profitierenden bayerischen Endzwanzigerinnen ihren Dilettantismus zum Programm machen, aber zum Entsetzen der Hälfte der Anwesenden stellte sich heraus, daß sie ernst meinen, was sie tun. Ich gehöre zur entsetzten Hälfte, aber die Fans sollen nicht unerwähnt bleiben. „Super, toll, mutig“, sind nur einige ihrer Ausrufe. Was allerdings die zehnköpfige, jugendliche Touristengruppe aus dem nordfranzösischen Lille, die sich ins Unart verirrte, davon hielt, ist nicht mehr herauszufinden. Sie verließen nach dem Konzert fluchtartig den Raum.
Wie, wenn nicht in Experimentierstuben wie dem Unart, sollen NewcomerInnen der Kunstszene ein Feedback bekommen, das sie zum Weitermachen animiert (oder auch nicht). Das ist nichts Neues, aber an der derzeitigen Kulturpolitik läßt sich leicht verzweifeln, sind doch viele kleine freifinanzierte Theater durch Mietspekulationen und eines sich auf Regierungssitz trimmenden Kulturverständnisses bedroht. Das Unart ist nur eines von ihnen. Deshalb auf zur Solifete heute im SO 36. Viele echte Unart-Geburten werden dort auftreten. Waltraud Schwab
Ab 21 Uhr im SO 36, Oranienstraße 190, Kreuzberg.
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