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Theater in Cinemascope

■ Robert Lepages "Die sieben Ströme des Flusses Ota" in Braunschweig

Robert Lepage war schon immer von Japan fasziniert. 1992 besuchte der Frankokanadier zum ersten Mal sein Land der Träume. Ging zweimal täglich ins Kabuki- Theater und bereiste die Insel. Kam unter anderem nach Hiroshima, wo ihn ein Theatermann und Shakespeare-Kenner begleitete, der den Fall der Atombombe auf Hiroshima erlebt und überlebt hatte. „Er erzählte mir viele Dinge und Geschichten, und ich habe versucht, neue zu erfinden.“ So entstand das Hiroshima-Projekt von Robert Lepage, das den Titel „Die sieben Ströme des Flusses Ota“ trägt. Sieben Teile soll das Mammutprojekt am Ende haben, sieben Stunden wird die gesamte Aufführung dauern. Fünf davon sind inzwischen fertig. In dieser Fassung war das Stück bei den „TheaterFormen“ in Braunschweig zu sehen. Es war keine Minute langweilig.

Theater muß wie Kino sein. Hat Peter Zadek mal gesagt. Das Theater von Robert Lepage ist wie Kino. Das Bühnenbild schmal und breit, Cinemascope-Format. Sieben Schiebetüren markieren die Front eines dreigeteilten japanischen Hauses. Die Türfüllungen sind aus Leinwand, Reispapier oder transparenter Gaze; sie lassen sich gegen Glas- und Spiegeltüren austauschen, die das Innere des Hauses sichtbar machen und gegebenenfalls durch weitere Spiegel vergrößern können. Die Schiebetüren funktionieren einerseits wie Bühnenprospekte, die ausgetauscht werden, wobei durch die Dreiteilung des Hauses mehrere Handlungsstränge parallel ablaufen können. Andererseits sind es verwandelbare Projektionsflächen. Ein amerikanisches Filmteam reist mit dem Zug durch Japan. Die abgefilmte Landschaft zieht auf der Leinwand vorbei, als säße man mit dem Kamerateam im Zug. Zugleich agieren hinter der Leinwand Schauspieler, die mit ihrem Schattenriß Menschen in einem Speisewagen darstellen.

Lepage implantiert die filmischen Mittel nicht wie einen Fremdkörper in das theatralische Geschehen, sondern integriert die visuellen Mittel auf organische Weise. Er spielt damit, ohne der Technik zu verfallen, und kehrt gleichzeitig zu uralten Formen des Theaters zurück: zum Beispiel dem Schattentheater. Es soll ja auch mal Zeiten vor dem Stadttheater gegeben haben, in denen einfache, auf Stoff gemalte Kulissen zur Erhellung oder Kommentierung der Handlung ausreichten.

Aber es sieht nicht nur wie Kino aus (der Titel wird projiziert, in den französischsprachigen Passagen werden englische Untertitel eingeblendet); „Die sieben Ströme des Flusses Ota“ zieht auch in Bann wie ein guter Film – oder Roman. Denn Lepage erzählt zwar mit minimalistischen Mitteln – aber in epischer Breite. Eine Saga, die etwa sieben Jahrzehnte unseres Jahrhunderts umspannt. Zwei Städte stehen als Metaphern für die Katastrophen dieses Jahrhunderts: Theresienstadt, Hiroshima. Die elfjährige Jana Capek überlebt wie durch ein Wunder Theresienstadt; ihr folgen wir in den 40ern nach Paris, finden sie wieder in einer WG im New York der 60er Jahre, erleben sie in Amsterdam, wo sie einen aidskranken Freund in den Freitod begleitet, treffen sie zuletzt in jenem Haus in Hiroshima, womit sich der Kreis der Handlung schließt. Denn hier hatte die Geschichte begonnen ...

Ein amerikanischer Soldat soll im Auftrag der Armee die durch die Bombe angerichteten „physischen Schäden“ mit der Kamera dokumentieren. Dabei begegnet er einer Frau, die ihm zunächst nur den Rücken zukehrt – ein schöner Rücken. Sie reden, er kommt wieder, eine erotische Spannung entsteht. Sie bittet ihn, ein Foto von ihr zu machen, von ihrem zerstörten Gesicht, denn ihre Umgebung hält alle Spiegel von ihr fern. Sein Auftrag lautet, Sachen, nicht Menschen zu fotografieren. Schließlich macht er das Foto. Eine Geste der Freundschaft, die dem Erschrecken langfristig standhält. Dieser Fotograf hat einen Sohn namens Jeffrey, der selbst Fotograf wird (der Vater stirbt an Leukämie) und die kleine Tschechin Jana in New York trifft, wo er ihr das Fotografieren beibringt. Dort freunden sie sich mit der Sängerin Ada Weber an, deren Mutter sich in Theresienstadt das Leben genommen hat. Die eher absurde Verbändelung der Protagonisten über die Kontinente und Generationen hinweg, die man hier gar nicht erzählen mag, gestattet dem Regisseur, bestimmte Probleme an mehreren Generationen abzuhandeln: Wie gehen Menschen mit dem Tod um, wie mit dem Überleben? Hiroshima ist nicht nur die Stadt des Todes, sondern auch des Überlebens und des Neubeginns.

Eine richtige Saga hat verschiedene Erzählstränge, die ein komplexes Bezugssystem herstellen. Am Ende läßt Lepage das Figurenkarussell immer schneller laufen, heizt es mit komödiantischer Exaltiertheit an, bis alle Personen wie in einem Boulevardstück aufeinanderprallen und auseinanderstieben. Abgang. Die schicksalsschwere Saga ist um mehrere Pfunde leichter geworden, wobei es Lepage gelungen ist, präzise Alltagsbeobachtungen einzuflechten – die ausgeflippte New Yorker WG, deren Begegnungsort das Badezimmer ist; das Diplomatenmilieu in Japan; Intrigenstrukturen einer Theatertruppe.

Robert Lepage, Jahrgang 1957, der in Cannes gerade seinen ersten Kinofilm „Le Confessional“ vorgestellt hat, ist nicht nur ein guter Regisseur, er hat auch einen hervorragenden Tonmann engagiert. Von vornherein übernimmt die Musik, die Michel F. Cot eigens für die Produktion komponiert hat, dramatische Funktion: In einer Bistroszene geht einer der Schauspieler, der gerade mit einem medizinischen Gerät den Aids-kranken Jeffrey abgehorcht hat, zwischen den Tischen hin und her und „horcht“, als halte er ein Mikrophon, in die Gespräche der Menschen an den verschiedenen Tischen hinein. So entsteht ein Stimmenwirrwarr, das dennoch akustisch entzifferbar bleibt. Wie lang ist das her? Eine mehrstündige Aufführung, die bis in die Details stimmig und faszinierend bleibt!

Die Motive vervielfachen sich, als würde man sie immer wieder neu durch die Kamera betrachten. Jede Szene eine Keimzelle des ganzen Stücks, jedes Bild Bestandteil eines anderen Bildes. Jana, mittlerweile sechzig geworden, lebt in Hiroshima. Die Fotografin willigt ein, eine Porträtaufnahme von Pierre, einem Kalligraphiestudenten, zu machen, der bei ihr zur Untermiete wohnt. Sie schminkt ihn mit Lippenstift und zieht ihm jenen Hochzeitskimono an, der einst der Frau mit dem zerstörten Gesicht gehört hat. Pierre setzt sich mit dem Rücken zu ihr hin und entblößt verführerisch die Schultern: eine spiegelbildliche Entprechung der Anfangsszene zwischen der Frau und dem amerikanischen GI. Hiroshima, mon amour. Sabine Seifert

Die Truppe von Robert Lepage (Ex Machina Quebec) ist bis Ende November auf Europa-Tournee und wird noch in Spoleto, Barcelona, Zürich und Aarhus gastieren. Erst 1996 werden alle sieben Teile fertiggestellt sein.

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