: Ausfahrt, Übergriff, Beute
■ Der Staatstheaterintendant Christoph Nix schießt in Kassel gegen die „Festung Europa“
Vor zwölf Jahren wussten Laibach die „Geburt einer Nation“ noch eindeutig zu definieren. „Ein Volk, ein Blut, ein starker Glaube“, vulgo Formierung nach innen. Die Abgrenzung nach außen interessierte damals nicht; im Staatstheater Kassel aber hat diese absolute Priorität: Die im Herbst von Christoph Nix übernommene Bühne präsentiert ein dreiteiliges Spektakel namens „Festung Europa“, und das einigende Element ist der Stacheldraht, der Albert Grüns Collage „Georg Forster“ (Regie: Andreas Seyffert), Christian Dietrich Grabbes Frühwerk „Gothland“ (Regie: Armin Petras) sowie die nationalrevolutionäre Liedertafel „Cassel – eine Revue“ (Regie: Frank Dorsch) im Programmheft verschnürt. Eine Nation stellt dieses Europa dar, das sich weitgehend dadurch auszeichnet, dass von außen, bitte schön, niemand reinkommen möge – und das Innen allein durch die Angst vor dem unheimlichen Außen befriedet wird.
Seit September steht Christoph Nix als Intendant der Kasseler Bühne vor: Anwalt, Juraprofessor, Politaktivist, Hospitant am Berliner Ensemble, dann Intendant in Nordhausen, was das nordthüringische Bergbaustädtchen auf die Landkarte der Feuilletons brachte. Und nun: Kassel. Staatstheater. Ein Dampfer in der nordhessischen Provinz, riesig im Vergleich zu Nordhausen, schwerfällig, zentral im Selbstverständnis des Bildungsbürgertums einer kleinen Großstadt. Das will übernommen werden, feindlich, Nix nennt das Piraterie. In Wahrheit ist das Rezept des Intendanten einfacher, es geht darum, rauh zu sein, unpopulär (Nix' erste Amtshandlung war, die Verträge des alten Ensembles nicht zu verlängern, seither weht ihm der Wind ins Gesicht), politisch. Schon das ist hier freibeuterisch: Ausfahrt, Übergriff, Beute. Besetzung dem Theater versperrter Bereiche der Wirklichkeit: In „Festung Europa“ wird die Wirklichkeit ins Schauspielfoyer geholt, stellen sich Organisationen, die sich im realen Leben mit dem zur Festung umgebauten Schengenland beschäftigen, vor. Und scheitern: amnesty international, der Hessische Flüchtlingsrat oder die Diakonie Kurhessen Waldeck wissen nicht mit theatralen Formen umzugehen. Das Problem ist eben ein rhetorisches. Da knirscht das Spektakel. Soll es wohl auch.
Denn auch das für „Festung Europa“ zentrale „Gothland“ knirscht: ein frührealistisches Schlachtgemälde an der schwedischen Küste, wo zu Beginn noch melancholisch finnische Tangos getanzt werden, bis das Wetter schlechter wird und Neil Young die Gitarre rückkoppeln lässt. Da legt das Fremde an, das Böse, die finnische Armee, geführt vom Neger Berdoa (Peter Moltzen), gerüstet in Plastiktüten. Und alles gerät aus den Fugen, Herzogin Cäcilia (Danielle Schneider) verliert das körperliche, Herzog Theodor von Gothland (Norbert Stöß) das moralische Gleichgewicht. Was zu Beginn noch nach den letzten Blumenkindern Skandinaviens aussah, wird langsam rußig, blutig, verstaubt. Auch die Inszenierung verliert spätestens nach der Pause an Kraft, wird müde vom Schlachten und schläft im brennenden Hemd ... aber stören will das nicht mehr, die Angst vor dem Fremden hat sich totgelaufen, ist quasi versteinert. Und regt sich noch einer, bekommt er ein Holzschwert an den Schädel. Oder ein Spielzeugschiff. Oder die FAZ, die sich in den Schlussszenen ohnehin als effektivstes Mordinstrument erweist.
Armin Petras beweist mit „Gothland“ ein ums andere Mal seine Nähe zur Ästhetik der Berliner Volksbühne. Wie auch seine Abgrenzung: Petras interessiert sich weniger für Texte als Frank Castorf, deswegen lässt er sie weitgehend in Ruhe. Was „Festung Europa“ dennoch selbst an der Volksbühne gut aussehen ließe, ist das Verständnis eines plateauförmigen Theaterabends, das verschiedene Ästhetiken sich überlagern lässt. Hier also: Dramaturgen-Staatstheater („Georg Forster“), Dekonstruktion („Gothland“), Politisches Brettl („Cassel – eine Revue“). Der Bezugsrahmen des in Kassel versuchten politischen Theaters ist so nur noch der rein mythologisch fassbare Begriff der Nation und nichts weiter. Andere politische Akteure werden nicht wahrgenommen, und im Foyer werden dann die NGOs ausgestellt, die an einem Diskurs teilhaben wollen, der noch nicht einmal angedacht ist.
„Festung Europa“ knirscht und ächzt. Auf den letzten Seiten zeigt die Spielplanvorschau die offene See: Das ist es, wo Nix mit seinem Piratenschiff hin möchte, das ist der Diskurs. Aber das Staatstheater ist schwerfällig, so schwer: Schön ist das, wunderbar.
Falk Schreiber
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