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Wie sozial sind vier Millionen Arbeitslose?

betr.: „Eine Gefahr für die Grundlagen unserer Kultur“ von Pierre Bourdieu, taz vom 4. 12. 99

Die große Frage ist, wie sozial sind vier Millionen Arbeitslose? Arbeitslose, die nicht einmal die Freiheit haben, für etwas weniger Geld zu arbeiten (das würde den sozialen Frieden der Arbeitsplatz-Besitzer stören); Arbeitslose, die schon bei geringfügiger Beschäftigung von der Solidargemeinschaft zur Kasse gebeten werden (ohne selbst ernst zu nehmende Ansprüche zu erwerben), Arbeitslose, bei denen zuerst und hauptsächlich gespart wird. Das System Europa funktioniert gut, für Holzmänner und Kohlekumpel, aber es lässt viele Leute ohne Lobby im Regen stehen und wickelt sie dann in Sparpakete ein.

Nur eine Unzulänglichkeit? Wahrscheinlich nicht, es gehört zum System, und so lange es eine Minderheit ist, funktioniert es. (Die Arbeitslosenquote von zehn bis zwölf Prozent ist wahrscheinlich gerade noch Minderheit genug.)

Es ist an der Zeit zuzugeben, dass es echte Interessenkonflikte gibt, die schwer lösbar sind, die sich aber auch nicht mehr verschleiern lassen. Gegensätze zwischen Beschäftigten und ihren neuen Lohnforderungen und Arbeitslosen, die, wenn sie dürften, für 20 Prozent weniger Lohn arbeiten würden. In einer neoliberalen Gesellschaft sind die Türen wenigstens offener. Komm rein, versuch dein Ding, wir geben dir eine Chance, aber keine Sicherheit. Firmen können es sich nur schwer leisten, gute Bewerber abzuweisen und weniger kompetente Angestellte weiter zu beschäftigen. Zugegeben, das ist nicht sehr sozial, aber wie sozial sind Einstellungsstopps? Wir müssen zugeben, dass viele Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger von solchen Regelungen profitieren könnten. Und wie das Beispiel USA zeigt, würde das System vielleicht sogar neue Investitionen bringen und Arbeitsplätze schaffen.

Neoliberalismus mag unsozial sein, aber neoliberale Margaret-Thatcher-artige Reformen werden sich schwer vermeiden lassen, wenn das hässliche Gesicht Europas, die akzeptierte, verharmloste und schön geredete Massenarbeitslosigkeit, nicht bald verschwindet. [...]

F. Henkler, London, Großbritannien

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