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Vom Arbeitsspeicher auf die Bühne

Die einen nennen ihn ein Genie, die anderen halten ihn für einen Scharlatan. Sicher ist nur, dass der New Yorker Produzent, Remixer, Bassist und Labelbetreiber Bill Laswell ein Workaholic ist. Mit seinem neuen Projekt Charged kommt er jetzt ins Podewil  ■   Von Thomas Gläßer

Welche Musik würden Mozart oder Beethoven oder Charlie Parker heute machen? Ein beliebtes Ratespiel unter Musikjournalisten und Promoschreibern. Vor allem Miles Davis wird regelmäßig als Pate für Projekte zwangsverpflichtet, die sich irgendwo im Koordinatensystem von Jazz, aktuellen Beats und Layertechnik bewegen. Für viele dieser Projekte hätte der Meister selig wohl nicht einmal ein heiseres Krächzen übrig.

Doch es gibt Ausnahmen: Charged zum Beispiel, das aktuelle Projekt des italienischen Gitarristen und Soundtüftlers Erraldo Bernocchi mit Produzenten-Legende Bill Laswell am Bass und dem japanischen Trompetenstar Toshinori Kondo. Explizite Hinweise auf das Davis-Erbe hat man sich gespart, die drängen sich von selbst auf. Und das liegt nicht nur an Kondos elektronisch verfremdeter Trompete, die den Sound von Charged als Leadstimme dominiert. Die funkig-jazzige Musik dieses Projekts ist offen gegenüber zeitgenössischen Drum-'n'-Bass-Sounds, bezieht sich auf die Klangarchitekturen und Endlosstrukturen von Ambient, verbindet erdige Grooveschichtungen mit improvisatorischer Freiheit. All das erinnert konzeptionell an den Electric Miles der 70er, in der kühlen Schwere des Sounds an Davis' 80er-Platten wie „Tutu“.

Dabei hat Bernocchi eigentlich als Punk-Gitarrist angefangen. Gelangweilt von rockistisch-starren Mustern, wandte er sich Anfang der Achtzigerjahre der Arbeit an eigenen musikalischen Konzeptionen zu, die im frühen Industrial fruchtbaren Boden fand. Bei seinen Solo-Performances experimentierte er mit Tapes, Loops und Visuals. Er knüpfte Kontakte zu japanischen Noise-Artists, fing in seiner Band Shiva Recoil an mit Analog-Synthesizern zu experimentieren. Musikalische Grenzgänge, die Durchdringung von live gespielter und elektronisch erzeugter Musik wurden sein Thema: die Möglichkeit, synthetische Strukturen zum Leben zu erwecken, live gespielte Klänge in neuen Soundkontexten umzudefinieren und anders auszuleuchten. Bill Laswell lässt grüßen, denkt man sich, und Bill Laswell ließ grüßen. 1993 arbeitete Bernocchi im Rahmen des Somma-Projekts, das schamanische Rituale elektronisch transformierte, erstmals mit Bill Laswell zusammen.

Laswell ist Legende. Als Produzent von U2, Björk, Herbie Hancock, John Zorn, Mick Jagger, Pharoah Sanders, als Kopf des Axiom-Label-Netzwerks, als Remixer von Bob Marley und Miles Davis, als Bassist von Gruppen wie Material, Massacre oder Last Exit, die die Grenzen zwischen Hardcore, Jazz und allem möglichen anderen pulverisierten. Als Genie, Scharlatan, Workaholic und Mister Laswell in allen Spuren und auf allen Wegen. Über ihn ergab sich der Kontakt von Bernocchi zu Toshinori Kondo – Charged war geboren. Eine virtuelle Band, denn das „Zusammenspiel“ der drei Musiker bestand vor allem im regen Austausch von DAT-Bändern via Post. Bindeglied der verschiedenen Soundschichten war Bernocchis Computer. „Recorded at: Studio Coffee Shop Amsterdam, Metal Box Studio Kawasaki, Orange Music (Orange NJ), Verba Corrige Studio Milan.“

So liest sich das dann im Booklet. „Mixen ist nicht nur Balanceregelung, sondern Teil der Komposition“, sagt Bernocchi und betont, wie wichtig es sei, dabei den „Impact“, as known as Frische und Vitalität der Musik, zu erhalten. Bei Charged ist ihm das aber nur teilweise gelungen. Manchmal bleiben die einzelnen Schichten sich fremd, die Illusion maschineller Organik misslingt. Doch jetzt kann man Charged, das in Sachen Promotion natürlich gut von der Mitwirkung Bill Laswells lebt, auch live erleben. Und da wird sich das alles noch einmal ganz anders ausnehmen, nicht zuletzt weil die Band sich zusätzlich mit dem Chicagoer Schlagzeug-Chamäleon Hamid Darke, der kürzlich erst mit Pharoah Sanders auf Tour war, und mit DJ Disk von den Invisible Scratch Piklz sowie Soundmann Oz Fritz verstärkt hat. Gerade noch im Arbeitsspeicher und jetzt schon live bei uns auf der Bühne.

Charged featuring Bill Laswell, heute Abend ab 21 Uhr im Podewil, Klosterstr. 68, Mitte

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