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Herr der Schienen

■ Vorschau: Dragan Velikic, ein Belgrader in Bremen, liest aus seinem hochgradig vernetzten Roman „Danteplatz“

„Belgrad liegt auf: 44 49' 14'' nördlicher Breite / 20 27' 44'' östlicher Länge / Ausdehnung 3.221,85 qkm / ... / Klima gemäßigt kontinental / Durchschnittstemperatur 11,6 C ...“ Und so weiter. Eine Auflistung, die man für jede Stadt dieser Welt vornehmen könnte. So beginnt „Belgrad“, ein Text des 1953 ebendort geborenen und im istrischen Pula aufgewachsenen Schriftstellers Dragan Velikic. Es handelt sich nicht nur um die Biografie einer Stadt, sondern auch eine wunderschöne Liebeserklärung an sie. Und dies ohne jenes verdrehte nationalistische Pathos, gegen das es doch angeblich so schwer sei sich zu wehren in Zeiten der NATO-Angriffe – wie überall zu lesen war.

Heute lebt Velikic nur wenige hundert Meter von meiner Wohnung entfernt. Noch bis Ende dieses Jahrtausends ist er im Rahmen des Programms „Städte der Zuflucht“ zu Gast in der Hansestadt. Als ich Velikic in einem Café treffe, erzählt er, wie merkwürdig es für ihn ist, hier zu sein. Denn noch im Budapester Exil hat er mit der Recherche für einen Roman begonnen mit dem Arbeitstitel „Fall Bremen“. Den Ausgangspunkt bildet die Geschichte von Velikics Vater, der während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter in einem kleinen Ort zwischen Bremen und Oldenburg war. Dann kam die Einladung nach Bremen.

Ähnlich ist es ihm mit „Danteplatz“ gegangen. Eine der drei Hauptfiguren des in den Jahren 1995/96 geschriebenen Romans ist ein Exilant. Ein Schriftsteller, der in einer Dunkelweg genannten aber unschwer als München zu identifizierenden Stadt lebt. Velikic selbst emigrierte noch im März, allerdings nach Budapest. Belgrad, wo Velikic als Verlagsleiter tätig war, hat er seither nicht wiedergesehen.

Mit der Opposition geht es den Bach runter. Doch sind diejenigen im Umkreis des Senders B 92, zu denen Velikic gehörte, die letzten, denen ein Vorwurf zu machen ist. „Immer wenn in Serbien und Jugoslawien gewählt wurde – und es wurde viel gewählt“, sagt Velikic, „hielt es der Westen nicht für angebracht, die oppositionellen Kräfte zu unterstützen.“ Slobodan Milosevic „ist all das, was der Westen nicht schaffen wollte, er ist zugleich all das, was der Westen durch seine ununterbrochenen Fehlgriffe fertiggebracht hat.“ Dumpfe Ressentiments gegen den Westen aber sind Velikics Sache nicht, dafür ist er zu sehr Kosmopolit, was sich auch in seinen Büchern widerspiegelt.

Für Velikic bedeutet Fiktionalisierung stets die Aufzeichnung des Möglichen. So erinnern seine Figuren mit all der Reflexion über die fiktive Identität, die, ganz wie im richtigen Leben, eine konstruierte ist, an die Figuren in Brochs „Schlafwandlern“ oder an die Bewohner der Texte Danilo Kis'. „Die Straßenbahn hält am Wendepunkt über dem Hafen“, heißt es in „Belgrad“. „Der Name des Fahrers ist Marko Nikolic. Er weiß noch nicht, dass zu jener Stunde in der Straßenbahn noch zwei Marko Nikolic sitzen, die sich nicht kennen. Niemand weiß, wie viele Menschen mit dem Namen Marko Nikolic in Belgrad wohnen. Und wieviel Marko Nikolics auf den Belgrader Friedhöfen liegen.“

„Alles hatte mit den Zügen begonnen“, lässt Velikic eine Alter-Ego-Figur, den Schriftsteller Labud Ivanovic im eben erschienenen Roman „Danteplatz“ sagen. Dieser Ivanovic glaubte, die Welt werde nur zusammengehalten, weil sie mit Gleisen und Schienen verbunden ist. Und Velikic scheint diesen Glauben zu teilen, zumindest im metaphorischen Sinne. Seine Texte sind weniger von den Handlungssträngen getragen als von einem Gerüst aus Metaphern, die Velikic geschickt aus dem realen Gestrüpp aus Schienen, Bahnhöfen und Zügen herauspräpariert.

Der Zerfall Jugoslawiens bildet die Matrix von „Danteplatz“. Fragmentiert, zeitlich und räumlich gebrochen, erzählt der Roman vom Versuch eines amerikanischen Wissenschaftlers, drei Autorenbiographien zusammenzufassen. „Danteplatz“ ist das Ergebnis einer ähnlichen Unternehmung. Zwischen Triest und Amsterdam, zwischen Joyce, Baedecker und Exil erfahren wir die Biographien des Schriftstellers Labud und des Bibliothekars Damjan. Schienen und Wasserwege dienen als Ordnungssystem, bilden zugleich die Zentralmetapher des Textes. Die Vernetzung darf man auch auf die Bedeutung des Internet als (Des)Informationssystem hin lesen. Sie gewährleistet den Austausch, birgt zugleich aber die Möglichkeit des Abgeschnittenseins oder der Bewegung in die falsche Richtung.

Tim Schomaker

14. Dezember um 20 Uhr, Villa Ichon. Der Roman erschien 1999 bei Wieser in Klagenfurt und kostet 48,- Mark.

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