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„Ich bin sehr optimistisch“

■  Gespräch mit dem Schriftsteller Édouard Glissant über kulturelle Vielfalt unter den Bedingungen der Globalisierung, über offenes Denken und die Chancen der Vermischung

taz: Sie unterscheiden zwischen Globalität (mondalité) und Globalisierung (mondialisation). Wie bedingt sich beides?

Édouard Glissant: Die Globalisierung ist der negative Teil der Globalität. Sie bedeutet Standardisierung, die Poltik der Multinationalen, Auflösung, etc. Ich denke, man kann sich nur gegen diesen zerstörerischen Akt der Globalisierung wenden, wenn man eine Vorstellung davon hat, was Globalität bedeutet. Globalität ist die gemeinsame, momentane Situation aller Menschen auf der Welt. Man kann nicht denken, kreativ sein oder seine Ökonomie entwickeln ohne sich diesen Kontext von Welttotalität bewusst zu machen. Das Wichtigste ist: Man verliert sein Wesen, seine Poetik, wenn man sich als Volk oder als Mensch isoliert. Wir müssen verstehen lernen, wie die Vielschichtigkeit der Welt uns bestimmt.

Und wie bestimmt sie uns? Es gibt doch Dominanzkultur. Bestimmt diese ökonomisch begründete Dominanz der industrialisierten Länder nicht „die Poetik der Beziehungen“, wie Sie es nennen, nach ihren Regeln, zu ihren Bedingung?

Nein. Die Welt ist nicht linear. Sie verändert sich. Die Globalisierung kämpft immer gegen die Globalität und umgekehrt. Dennoch ist es besser, Dominanz für eine Zeit zu ertragen, als sich zu verschließen. Wenn ein Land, ein Volk sich verschließt ist es ein totes Volk. Es wird folkloristisch. Die ökonomische Dominanz einiger Länder wie den USA, Japan, Deutschland ist keine Dominanz eines Systems.

Warum? Die Globalisierung verändert doch nachhaltig Lebensformen, Lebensstile, menschliche Beziehungen ...

Aber die Globalisierung zerstört keine Beziehungen. Sie weitet sie aus. Die Welt kreolisiert sich. Kreolisierung nenne ich die Begegnung, die Wechselwirkung, das Aufeinanderprallen, die Harmonien und Disharmonien zwischen Kulturen in der hergestellten Totalität unserer Welt. Die Kreolisierung ist nicht einfache Rassenmischung, sie geht weiter. Sie schafft absolut Neues, das unerhört und unerwartet ist.

Viele sehen diese Entwicklung als Identitätsverlust, Orientierungslosigkeit, Entwurzelung ...

Nein. Es geht vielmehr darum, dass man jede zersprengte, vielschichtige Identität nicht als Mangel an Identität betrachtet, sondern als Erweiterung und als eine neue Chance die Barrieren der Abgrenzung zu überwinden.

Unter dem Diktat einer Kultur der Sieger?

Ja, aber das ist ein vorübergehendes Phänomen. Nur für den ersten Schock will man auch in den armen Ländern wie Dallas sein. Dann kehrt man wieder zu seinen eigenen Erzählungen zurück. Was ich damit sagen will: Wir haben die Vorstellung, das diese Dominanz ewig ist. Sie ist es nicht. Man kann nicht Werte als universell setzen, die dermaßen speziell sind.

Von Bedeutung ist: Es gibt ein individuelles Schicksal, das sich auf den Bürgersteigen von Kalkutta genauso abspielt wie auf den Bürgersteigen von New York. Auch wenn die USA dominant und mächtig sind , entkommen sie nicht der Situation der Armut, die auf der Welt existiert. Das liberalisierte Kapital kümmert sich darum nicht. Aber das Wichtige sind die neuen Chancen, die daraus entstehen: Immer mehr nähert sich die Situation von dem auf den Bürgersteigen in New York Lebenden, dem in Kalkutta unter gleichen Bedingungen Lebenden an.

Was sind die neuen Chancen dabei?

Es entsteht eine Art, die Welt zu denken, die nichts mehr mit dem starren Denken der Kommunisten im Sinne von „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ zu tun hat. Dieses Denken ist vorbei.

Aber es gibt ein Denken der Annäherung von unterschiedlichsten Orten, das dazu beiträgt, das sich eine Bewegung entwickelt. Weltweit. Und gleichzeitig entdeckt man überall die Notwendigkeit lokalen Handelns. Auch in der Ökonomie: Ich las einen Artikel in einer Wirtschaftszeitung, und der Rat der großen Firmen war: „Kleinteilig denken. Kleine Firmen vor Ort aufzubauen.“ Das sagen auch die dominierten Länder. Wir wollen unsere eigenen kleinen Firmen aufbauen, nach einem reduzierten Modell, nicht nach dem Modell der Globalisierung. Und wir wollen Beziehungen zu anderen Ländern mit ähnlicher Politik knüpfen, um dem Druck der Globalisierung zu entgehen.

Sind solche Ansätze nicht machtlos gegenüber der Politik der Großkonzerne?

Ja, solche Ansätze sind bedroht. Aber ich behaupte trotzdem die reichen Länder brauchen die armen Länder. Beispielsweise um eine neue Beziehung zur Natur aufzubauen. Das ökologische Bewusstsein in den reichen Ländern entwickelt sich. Aber das ist eine Ökologie des Prinzips. Ihr fehlt das menschliche Vitamin.

Aber wo kommt dieses menschliche Vitamin in den Entwicklungsländern zur Geltung? Unter dem Primat ökonomischen Nutzens werden ganze Küstenstreifen, auch in der Karibik, ausverkauft. Die Natur wird für die schnelle Mark geplündert. Die armen Länder machen dabei im Zeichen der Liberalisierung vorbehaltlos mit.

Das ist Folge der Globalisierung. Aber die reichen Länder müssen umdenken.

Warum?

Weil die Atomkraft bedrohlich wird, weil die Flüsse austrocknen, die Wälder immer weniger werden. Schon jetzt gibt es in den USA unglaubliche Programme für den Naturschutz. Ich spüre auch in den Veröffentlichungen der amerikanischen Zeitungen eine größere Offenheit. Die Amerikaner wissen nichts von der Welt. Sie werden anfangen müssen, zu verstehen, was in der Welt passiert.

Und das, was auf der Welt passiert, ist Ihrer Meinung nach unberechenbar. Kann man es eigentlich ertragen in diesem permanenten Prozess der Auflösung, der Kreolisierung zu leben und immer im Werden zu sein?

Wir machen alle die Erfahrung, das die Welt chaotisch ist, aber wir können das Chaos nicht mit Prinzipien eindämmen. Wenn wir das versuchen mit den alten Mittel des Denkens in Systemen, nehmen wie die Unvorhersagbarkeit der Welt nicht mehr wahr. Vielleicht werden ja Texas, Florida und Kalifornien eines Tages unabhängig. Vielleicht auch nicht. Aber es könnte ebenso sein, dass sich auch das dominante Amerika archipelisiert.

Oder: Es gibt einen amerikanischen Faschisten der vorgeschlagen hat, die Weißen sollten sich im Zentrum der Staaten sammeln und die Ränder den Schwarzen , Hispanics etc. überlassen. Selbst diese Reaktionäre haben das Gefühl machtlos zu sein, sie wollen sich abschließen gegenüber dem, was in der Welt passiert. Deshalb bin ich sehr optimistisch. Jeden Tag geht in der Welt etwas voran, Tag für Tag.

Trotz Nationalitätskonflikten, Diskriminierung, Enteignung, Verfolgung auf der Welt?

Ja, es gibt immer noch die Dominanz, es gibt Vorurteile, es gibt Rassismus, es gibt Unterdrückung, es gibt Jugoslawien und den Kosovo. Das sind die Quellen des Übels. Doch sie liegen in Agonie. Und sie werden bald der Vergangenheit angehören.

In Ihren Essays grenzen Sie das „archipelische Denken“ vom „kontinentalem Denken“ ab. Haben wir Ihren Optimismus diesem archipelischen Denken zu verdanken?

Es gibt Denksysteme, die sind stabil, organisiert, sie sind sehr gut. Wie die ganze europäische Philosophie. Der Rationalismus, der Empirismus, der Sozialismus, der Marxismus. Sie versuchen ein stabiles Fundament für die menschlichen Bedingungen zu liefern. Aber wir wissen, dass sie nur zum Teil Recht haben. Man kann kein stabiles Fundament für die Menschheit liefern. Weil es nicht nur ein menschliches Modell gibt. Dieses Denken ist kontinental. Europa hat sein Systemdenken in die Welt exportiert. Das archipelische Denken ist fragil. Es ist nicht systemhaft. Es ist sich nicht sicher. Es passt sich viel schneller der dauernden Veränderung der Welt an. Es passt sich der chaotischen Seite der Welt an. Und es ist effizienter in unserer aktuellen Situation. Man sollte etwas vom europäischen Denken erhalten: die Schönheit, das Konzept etc. Aber man muss auch am archipelischen Denken teilhaben. Es ist das Denken, das fragt, das sucht , das Ambivalenzen erträgt. Und viele Kulturen heute sind archipelische Kulturen. Auch Europa archipelisiert sich. Interview: Edith Kresta

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