■ Kommentar
: Aufbruch  Die EU und das Ende der türkischen Gewissheiten

Endlich, wir sind Europäer“, freut sich das Massenblatt Sabah über die Zuerkennung des Beitrittskandidaten-Status für die Türkei. Das wird sich noch zeigen, möchte man leise einwenden. Denn natürlich gehört die Türkei historisch und kulturell zu Europa. Aber in Europa zu leben und Europäer zu sein, das sind im Kontext der EU zwei verschiedene Dinge. Zu Europa zu gehören ist leicht, denn es ist ein geografischer Raum, der zu nicht viel mehr verpflichtet als zur möglichst guten Nachbarschaft. Viel, viel mehr bedarf es allerdings, Bürger der Europäischen Union zu sein.

Dabei ist die Erfüllung der harten wirtschaftlichen Auflagen der EU manches Mal noch die leichteste Übung. Schwieriger wird es bei der Verpflichtung auf die Gültigkeit der Menschenrechte. Und richtig schmerzhaft kann es da werden, wo nicht weniger als die nationale Identität zur Disposition steht.

Weiß die Türkei wirklich, was auf dem langen Weg in die EU noch an Zumutungen auf sie zukommt? Der Krieg im Südosten, die Zypern- und Minderheitenpolitik, die verleugnende Geschichtsschreibung zum Genozid an den Armeniern – nichts davon darf von nun an mehr als rein innere Angelegenheit reklamiert werden. Ansichten, die vielen Türken bisher gegenüber einem als feindlich erlebten Europa eine eigene Identität gaben, müssen nun revidiert werden.

Ein Land, das sich Einmischungen in Angelegenheiten, die es als innere betrachtete, bislang stets vehement verbeten hat, wird in der EU schnell an seine Grenzen stoßen. Denn Europäer zu sein bedeutet nicht nur die tägliche Intervention Brüssels und die Aufgabe nationaler Souveränitätsrechte, denen man in der Türkei mehr Aufmerksamkeit beimisst als andernorts. Europäer zu sein bedeutet seit der Aufklärung im Prinzip und bei allen Mängeln und Rückschlägen auch, sich und das eigene Bild von der Welt permanent in Frage zu stellen. Und die Bereitschaft, begangene Fehler zu revidieren.

Es ist kein gutes Zeichen, wenn in Istanbul und Ankara schon heute namhafte Stimmen laut werden, die fragen, ob der Helsinki-Beschluss vielleicht nicht doch eine neue, perfide Strategie Europas ist, die große, stolze und auf ihre nationale Ehre bedachte Türkei zu schwächen. Aber seit dem Wochenende liegt der Ball im türkischen Feld, nun muss er auch gespielt werden. Eberhard Seidel