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Die Sorge muss man suchen

Standort Deutschland (7): Wie verarbeitet man Umweltschäden und Massenentlassungen? In Gera sollen für die Bundesgartenschau in sieben Jahren aus radioaktiven Schlammseen Biotope werden ■ Von Thomas Sakschewski

In Acht und Bann“ wird in den Kammerspielen des Theaters Gera aufgeführt. Für Christoph Heins Parabel von der fehlenden Einsicht des einst geachteten und nun verbannten Politbüros ließe sich kaum ein besserer Spielort finden. Der Gebäudekasten mit dem Charme einer Bezirksamtskantine diente Mitgliedern der Staatssicherheit als Versammlungsstätte für Feste und Feierstunden. Gegenüber, auf der anderen Seite des riesigen Parkplatzes, stehen die Plattenbauten, in denen die Stasi-Hauptzentrale der zweitgrößten Stadt Thüringens untergebracht war.

Hier kümmern sich heute die Beamten des Finanz- und Arbeitsamtes um den Bürger. „Das Volk sollte glücklich werden“, resümiert zum Ende des Einakters König Artus auf der Bühne, und das Publikum lacht über sich und das Stück. Mit „In Acht und Bann“ eröffnet der Generalintendant des Theaters Gera, Michael Grosse, das Schwerpunktthema der Spielzeit 1999/2000. Das zehnjährige Jubiläum der Wende will er dramatisch bilanzieren. Grosse selbst trägt mit Vorliebe Jeansjacken und -hosen so stone-washed, wie man sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat. „Mein Theaterverständnis“, sagt der 38-Jährige, „ist immer ein konzeptionelles, und ein konzeptionelles ist letztendlich immer ein politisches. Das Schöne am Theaterbetrieb ist ja, dass man sich das eine mit dem anderen erkaufen kann. Also man spielt die Operette und das Kinderstück, um auf der anderen Seite auch Stücke zu spielen, die uns inhaltlich interessieren. Ob das jetzt Christoph Hein ist oder Botho Strauß, ist ja dann immer noch eine Wahlentscheidung.“

Gera, auf halbem Weg zwischen München und Berlin, liegt im Abseits der ansonsten positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Thüringen. Die Landeshauptstadt Erfurt möchte neben Frankfurt – am Main wohlgemerkt – Finanzplatz werden, Jena Zentrum der Hochtechnologie, und Weimar wird wohl auf ewig Goethe huldigen. Gera aber ist von allem ein wenig und nichts so richtig: Früher war die Geburtsstadt von Otto Dix Zentrum der Industrieproduktion. Das Kombinat Electronicon, ein Ableger von Zeiss Jena, entwickelte und baute hier Steuerungssysteme für sowjetische Mittelstreckenwaffen, und der volkseigene Betrieb Modedruck bestempelte Krawatten mit lila Pünktchen und Schürzen mit bleichen Blümchenmustern.

132.000 Einwohner zählte Gera damals. Auf der Suche nach Arbeit haben viele die Stadt in Ostthüringen bereits verlassen. „Die Stadt Gera hat nicht die idealen Startbedingungen gehabt, denn wir haben 1990 bis 1992 große Unternehmen verloren, manche mit 5.000 bis 6.000 Beschäftigten“, sagt Oberbürgermeister Ralf Rauch. 10.000 Arbeitsplätze waren es allein bei der Erzbergbaugesellschaft Wismut. Die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut war in der Region der größte Arbeitgeber. Ein Tarnname, denn nach dem Schwermetall namens Wismut wurde nie gegraben. Tatsächlich wurde Uranit, ein uranhaltiges Erz, im Umkreis von Gera abgebaut. Die Wismut, wie das Unternehmen weiterhin fast liebevoll genannt wird, war ein Staat im Staat, mit eigenem Sozial- und Gesundheitswesen, eigener Stasi- und Volkspolizeitruppe und eigenem Siedlungsbau. Gera war ein Hauptstandort der Bergbaukumpel. Wohl um die 20.000 Bergleute wohnten in Gera und Umgebung. So genau weiß das niemand, denn alles, was in Verbindung mit dem Uranbergbau stand, galt als Staatsgeheimnis.

Frühmorgens zum Schichtbeginn wurden die Wismutkumpel mit Sonderbussen zu den Schachtanlagen gefahren und abends wieder zurück kutschiert. Beneidet wurden sie von ihren Nachbarn in den Plattenbausiedlungen nicht nur wegen des Bustransfers, wie sich Klaus-Dieter Osiewacz von der Mineral- und Bergbauausstellung Ostthüringens erinnert. „Sie hatten auch gewisse Vergünstigungen, wie den Wismut-Schnaps. Von dem bekamen die Kumpel unter Tage sechs Flaschen im Monat. Das war so ein 32-prozentiger Klarer. Akzisefreier Trinkbranntwein, so hieß das.“

Auch Trabis sollen die Männer bei Wismut schneller bekommen haben, sagt Osiewacz, während wir durch die Ausstellung gehen, die im größten der Höhler von Gera untergebracht ist. Die Höhler sind Tiefkeller, die die Geraer Bürger im 16. und 17. Jahrhundert unter ihren Häusern angelegt haben, um das Bier zu lagern, dass sie nach städtischem Recht brauen durften. Die Vergünstigungen der Wismutkumpel waren 1990 zu Ende. Mit dem Einigungsvertrag ging die Wismut an den Bund. Einen Monat später wurde der Uranbergbau komplett eingestellt.

Die Hinterlassenschaften aus 40 Jahren rücksichtsloser Buddelei sind rings um Gera zu sehen. Eine verwüstete, zerstörte und strahlende Landschaft mit den 240 Meter tiefen Löchern des Tagebaus und 100 Meter hohen Abraumhalden. Mit Bundesmitteln wird ein kleiner Teil der früheren Belegschaft heute wieder beschäftigt. Sie räumen die Häuser und Schachtanlagen ihrer einstigen Arbeitsstätte ab, damit aus radioaktiven Schlammseen Biotope und aus Abraumhalden grüne Hügel werden, denn zur Bundesgartenschau (Buga) in sieben Jahren soll der Landstrich so aussehen, als hätte es die Wismut nie gegeben. Wie viel das kosten wird, weiß so genau niemand. 13 Milliarden Mark sind erst einmal beim Bundeswirtschaftsministerium für die nächsten Jahre zur Revitalisierung der Flächen vorgesehen.

Für die Stadtverwaltung ist die Buga der Rettungshalm, denn zehn Jahre nach der Wende sieht eine Zwischenbilanz eher grau aus. Mit etwa 17 Prozent ist die Arbeitslosenquote in Gera gleichbleibend hoch. „Wir müssen an diesem Problem natürlich intensiv arbeiten“, sagt Klaus Bickel, der Leiter des Amtes für Wirtschaftsförderung. Klaus Bickel sitzt am Stand der Stadt Gera bei den Ostthüringer Wirtschaftstagen, die finden im Kultur- und Kongresszentrum statt. Nur der Name klingt neu und irgendwie modern, ansonsten ist alles beim Alten geblieben. Das frühere Haus der Kultur wurde Anfang der 80er-Jahre in das Zentrum von Gera gepflanzt. In dem aluminiumverkleideten Bau mit seinen über 1.500 Plätzen präsentieren sich die mittelständischen Unternehmen der Region. Zwischen Plastiken des sozialistischen Alltags und braunen Wandvertäfelungen wirken die kleinen Messebauten der örtlichen Anbieter eher verloren.

Zum Abschluss der sechsten Leistungsschau der regionalen Wirtschaft wird ein lokales Unternehmen mit dem Innovationspreis geehrt. Diesmal würdigt die Stadt Gera die Firma air-be-c für ihre Entwicklung eines mobilen Sauerstoffkonzentrators. Unter Beifall und getragener Musik aus der Konserve kommen die drei Unternehmer auf die Bühne, um den Preis entgegenzunehmen. Sie tragen bunte Krawatten und Anzüge, die wirken, als wären sie an den Armen zu lang. Ihre Entwicklung tragen sie nicht. Könnten es aber, denn ein mobiler Sauerstoffkonzentrator ist ein Beatmungsgerät im Hartschalenkoffer von Samsonite. „Das ist ein charakteristisches Beispiel dafür, dass viele Unternehmensgründer den Mut erfolgreich honoriert bekommen und vom Markt bestätigt werden“, behauptet Klaus Bickel über den Innovationspreis der Stadt Gera.

Doch die Metallskulptur des Innovationspreises ist nicht das einzige Präsent für mutige Mittelständler und Investoren. Gera wirbt mit seinen Steuersätzen, im Vergleich zu Städten ähnlicher Größe die geringsten in Deutschland. Und auch in der Innenstadt ist in den letzten Jahren viel unternommen worden, um die Tristesse eines Industriestandortes der DDR mit frisch gestrichenen Fassaden zu überdecken. In der so genannten Altstadt, einigen wenigen Stadthäusern aus der Gründerzeit, sind die Spuren der Zeit immer noch sichtbar. Nur zur Hauptstraße hin sind die Plattenbauten im Zentrum bereits verkleidet. Dahinter liegen triste Wohnhöfe, in denen das Ballspielen sowie vieles andere verboten ist. „Die Sorge“ heißt die Einkaufsstraße in Gera. Viele Geschäfte stehen hier leer. Das neue Gera liegt unterhalb der Sorge und besteht aus einem Einkaufszentrum, in dem all die Waren angeboten werden, die es in der alten Stadt nicht mehr gibt. Boutiquen, Schuhgeschäfte und Parfümerien. Am neuen Einkaufszentrum, den Gera Arkaden, kommt man nicht vorbei. Hier kreuzen sich die Hauptverkehrsstraßen. Hier ist der zentrale Omnibus- und Straßenbahnhalteplatz.

Die Sorge dagegen muss man suchen. Deswegen sollen altes und neues Zentrum nach den Plänen der Stadt enger zusammenwachsen. Doch zwischen den beiden Teilen der Innenstadt steht der mächtige Klotz des Kultur- und Kongresszentrums, aber das soll sich ändern. „Der große zentrale Platz, ein politisches Relikt aus DDR-Zeiten, soll so umgestaltet werden, dass man die Stadt als Erlebnis wahrnimmt.“ Das Erlebnis, von dem Klaus Bickel spricht, ist die Stadt schon jetzt für Volker Schlöndorff. Ihm dient derzeit Gera als Kulisse für seinen neuen Film. Hier musste er kaum etwas nachbauen, und die Statisten musste er gar nicht erst schminken. „Die Fassaden mögen renoviert sein“, sagt er, „aber die Gesichter, die sind geblieben.“

In den riesigen Plattenbausiedlungen am Stadtrand, in Bieblach und Lusan, sind nicht mal die Fassaden saniert. Auf einem Hügel stehen die grauen Betonklötze wie von einem Riesen verstreut. An den Eingängen blättert der ausgeblichene Farbanstrich, und zwischen den Betonplatten klaffen daumenbreite Ritzen. Hinter den Fenstern bewegen sich die Vorhänge. Jeder Fremde wird misstrauisch beäugt, und hier ist jeder fremd, der nicht sein halbes Leben hinter Betonplatten verbracht hat.

Die Gäste „Bei Hugo“ wissen, dass sich ihre Welt verändert hat, doch akzeptieren wollen sie es nicht. „Bei Hugo“ verzichtet man auf jede Doppeldeutigkeit. Die Kneipe in Gera heißt „Bei Hugo“, weil der Wirt so heißt, und nennt sich eine „Bierwirtschaft“, weil es eine ist. Hugo sieht immer aus, als hätte er kaum geschlafen, und man kann annehmen, dass dies der Wahrheit nahe kommt. Hinter seinem Tresen aus Kiefernholz im Eigenbau steht er Nacht für Nacht. Als Markenzeichen trägt Hugo eine Baseballkappe – das einzige Zugeständnis an die veränderten Verhältnisse. Wer bei Hugo nicht seine Schachtel Cabinet oder f6 auf den Tisch legt, gehört nicht dazu. Die Zigarettenmarken, die man raucht, sind die alten, und die Lieder, die mitgesungen werden, sind es auch. Als Peter Wicht an diesem Abend auf der Bühne das Kampflied der Wismut-Kumpel anstimmt, singen alle mit. Und die Wessi-Witze, die er danach erzählt, gehen im johlenden Gelächter von Hugos Gästen beinahe unter. Peter Wicht war beim Wachregiment des Ministeriums für Staatssicherheit, doch irgendwann, erzählt der kleine, quirlige Sänger, ist er wegen seines losen Mundwerks angeeckt. Heute pflegt er im Freistaat Bayern beim ehemaligen Klassenfeind geistig Behinderte. Aus Bayern kommt auch seine Freundin. Die hat er an diesem Abend mitgebracht, sie findet die Songs einfach nur echt cool. Nach dem Auftritt verstaut Peter Wicht Freundin und Gitarre wieder in seinem Auto und fährt zurück nach Bayern.

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