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Kahlschlag fördert die Fantasie

Atmosphärisch spröde: Eine Ausstellung im Brecht-HausWeißensee zeigt tagebuchartige Bildstrecken von vier Fotografen

Tagebücher zu schreiben ist aktuell aus der Mode“, schreibt Matthias Flügge in seiner Einleitung zur Ausstellung „Tagebuch oder die Irritation der Erfahrung“, die sich genau diesem Thema widmet. Irritierend ist dabei gleich zweierlei: dass so etwas Intimes wie ein Tagebuch der Öffentlichkeit preisgegeben wird; und dass nicht Texte, sondern Bilder im Zentrum stehen – Fotografien von John Hilliard, Maria Sewcz, Axel Grünewald, Oliver Boberg. Es geht nicht um Worte, sondern um Aufnahmen von Orten und Gegenständen, die vom jeweiligen Kameraauge ausgewählt wurden und ganz neue Einsichten geben.

Gezeigt werden dabei keine Bildergeschichten für den voyeuristischen Nachvollzug. Alles, was ein Tagebuch vielleicht auszeichnen könnte – Periodisches, Anekdotisches, Persönliches –, taucht höchstens in Spuren auf. Es handelt sich eher um Tagebücher der Wahrnehmung, die Aufschluss geben über die Bedingungen des Sehens. Am meisten noch mögen die Aufnahmen der in Berlin lebenden Maria Sewcz (geb. 1960) den vom Titel geweckten Erwartungen entgegenkommen. Ihre zahlreichen Polaroids aus der Serie „Whitewood“ stammen aus Ahrenshoop im August 1999. Wie vertikal aufgehängte Filmstreifen in schmalen Rahmen enthalten sie Sequenzen von Meer, Strand, Wald, Wolken, spielenden Kindern. Zufällige Motivauswahl und verfremdende Präsentation durch häufige Drehung um 45 Grad vermitteln emotionale und atmosphärische Eindrücke, die hinter das Reale führen.

Auch Axel Grünewald (geb. 1954) aus Bielefeld führt mit seiner Auswahl aus der Anfang der Neunzigerjahre in Kalkutta entstandenen Serie „ojana lok“ eine Folge von gleichartigen Aufnahmen vor. Nur langsam schälen sich aus den tief dunklen, fast kontrastlosen Schwarzweißbildern – vereinzelt auch negativ – schemenhafte Dinge heraus: ein Gesicht, über dem Wasser ein Horizont, Rattenlöcher, Neonlicht, Asphalt, Steinfußboden, Insekten, Tierschädel, Menschenkörper ... Ausschnitthaft und unzusammenhängend fügen sich Partikel einer fremden Welt zusammen, die düster und abweisend wirkt.

Im harten Kontrast dazu stehen die Bilder von Oliver Boberg (geb. 1965). Nur drei seiner großen Farbfotos, die im Stil der Dokumentarfotografie daherkommen, hat der in Fürth ansässige Künstler ausgewählt. Seine Orte – eine von kahlen Bäumen gerahmte Aussichtsplattform, gemauerte Gebäudeecken oder ein leerer Innenhof – enthalten nichts Sehenswertes oder Bildwürdiges. Doch bei aller Unscheinbarkeit und Banalität der Motive liegt in ihrer genau komponierten Ablichtung oder der sanften Tonigkeit die Stärke: Boberg Arbeiten entblößen und verführen zugleich.

Als einziger der Aussteller arbeitet John Hilliard (geb. 1945), der in London lebt, mit inszenierter Fotografie. Seine meist großformatigen bunten Bilder scheinen mysteriösen oder amourösen Geschichten entnommen zu sein, ohne dass ihr Plot erkennbar wäre. Die Orte des Geschehens bleiben im Unklaren, die Menschen erscheinen wie Darsteller, und durch teilweises Überdecken oder Verschleiern der Szene werden die Bilder zu Projektionsflächen der Fantasie. Es ist diese Unentschiedenheit, die Hilliards Arbeiten Spannung verleiht. Was man täglich sieht, erscheint jedem anders. Michael NungesserBis 16. 1. 2000, Mi bis So 14 bis 18 Uhr, Brecht-Haus Weißensee, Berliner Allee 185. Katalog: 5 DM.

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