: Erschießung war angeblich „vegetative Reaktion“
Keine Strafe für die Erschießung eines Wanderers durch Polizisten. Suspendierung der Beamten wird aufgehoben. Polizisten verwechselten Urlauber mit gesuchtem Zurwehme
Erfurt/Berlin (AP/dpa/taz) –Die beiden Polizisten, die vor einem halben Jahr in Thüringen bei der Fahndung nach dem Schwerverbrecher Dieter Zurwehme einen Kölner Urlauber getötet haben, gehen möglicherweise straffrei aus. Wie der Leitende Erfurter Oberstaatsanwalt Raimund Sauter am Freitag in Erfurt mitteilte, haben die Beamten an der Tür eines Hotelzimmers in Heldrungen auf Grund einer „vegetativen Reaktion“ unabsichtlich geschossen. Das Verfahren sei eingestellt worden. Gegen diese Entscheidung könne die Witwe des 62-jährigen Opfers jedoch Beschwerde einlegen, sagte Sauter.
Die Staatsanwaltschaft stützte die Einstellung des Verfahrens auf das Gutachten eines Sicherheitsexperten der Universität Bremen. Danach seien die Beamten überzeugt gewesen, dem international gesuchten Vierfachmörder gegenüberzustehen. In der starken Stresssituation sei das Urteilsvermögen der Polizisten eingeschränkt gewesen. Sie hätten nicht mehr beeinflussen können, ob sie den Abzug ihrer Pistole durchziehen, sagte Sauter.
Wenige Stunden vor der Tat am 27. Juni 1999 hatte der Mitteldeutsche Rundfunk in der Sendung „Kripo live“ das Fahndungsfoto des 56-jährigen Täters gezeigt und über den als extrem gefährlich geltenden „Mörder von Remagen“ berichtet. Zur weiteren Beschreibung Zurwehmes hieß es, der Gesuchte solle einen Wanderstock und einen Rucksack bei sich haben. Dies passte auch zu dem Urlauber. Eine Kellnerin, die die Sendung verfolgt hatte, vermutete daraufhin in dem Kölner den „Mörder von Remagen“ und alarmierte die Polizei in Nordhausen. Sie erhielt den Hinweis, der Gesuchte, der mit Rucksack und Spazierstock umherziehe, halte sich im Hotel „Zur Erholung“ in Heldrungen im Kyffhäuserkreis auf.
Der Einsatz war vom diensthabenden Nordhäuser Polizeiführer veranlasst worden. Dieser hatte in Abstimmung mit dem Landeskriminalamt vier Polizisten der Zivilen Einsatzgruppe beauftragt, die Identität des Mannes festzustellen. Der Urlauber hatte bei seiner Anmeldung im Hotel keinen Personalausweis vorgelegt. Ein Fahndungsfoto von Zurwehme hatten die Beamten laut Sauter nicht dabei.
Wie die Staatsanwaltschaft weiter mitteilte, klopfte der Hotelwirt gegen 23.00 Uhr an der Zimmertür des Hotelgastes aus Köln und rief ihn heraus. Der Urlauber war zu 60 Prozent hörgeschädigt. Daraufhin sei der Mann aus dem Bett gekommen und habe die Tür einen Spalt geöffnet, als er von den Zivilbeamten mit vorgehaltenen Pistolen und dem Ruf „Polizei!“ empfangen worden sei.
Laut Sauter hat der Gast die Tür wieder schließen wollen, soll aber auch nach einer der vorgehaltenen Waffen gegriffen haben. Im Gerangel habe sich ein Schuss aus der Pistole des 44-jährigen Polizisten Peter Z. gelöst, der den Kölner direkt ins Herz getroffen habe. Der Schuss des 30-jährigen Beamten Jörg K. habe die geschlossene Tür durchdrungen und das Opfer lediglich an der Rippe gestreift. Beide Beschuldigten hätten erklärt, dass sie „unabsichtlich, gleichermaßen als Reflex“ geschossen hätten, was vom Expertengutachten zweifelsfrei bestätigt worden sei.
Die Ermittlungen haben nach diesen Angaben ergeben, dass sich durch das Gerangel an der Tür im halbdunklen Flur eine Eigendynamik entwickelt habe. Die Beamten seien gezwungen worden, in Sekundenschnelle zu handeln. Zwar habe es sich objektiv um fahrlässige Tötung gehandelt, subjektiv aber hätten die Beamten das Geschehen nicht mehr steuern können und nicht bewusst gehandelt, weshalb sie keine strafrechtlichen Konsequenzen zu erwarten hätten. Dies treffe auf alle am Einsatz beteiligten Beamten zu, sagte Sauter.
Sauter sagte weiter, die Beamten hätten Angst gehabt, seien sehr aufgeregt und mit der Situation überfordert gewesen. „Mir ist bewusst, dass diese Entscheidung schwer verständlich und schwer zu vermitteln ist“, meinte Sauter und nannte den Fall „tragisch“. Beide Polizisten werden möglicherweise schon am Montag wieder im Dienst sein, kündigte das Innenministerium an. Die Suspendierung der Beamten werde aufgehoben, sobald die Entscheidung der Staatsanwaltschaft schriftlich vorliege. Gleichzeitig werde das Disziplinarverfahren gegen sie und einen weiteren Polizisten wieder aufgenommen. BD
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