: Ein Präsident packt mit an
Hugo Chávez nutzt die schlimmste Naturkatastrophe Venezuelas in diesem Jahrhundertzu einer großartigen Einmannshow und spielt den Nationalhelden ■ Von Ingo Malcher
Buenos Aires (taz) – Was für ein Präsident. Noch nachts um ein Uhr haut er in olivgrüner Fallschirmspringeruniform mit einem Pickel in den von Schlamm und Trümmern übersäten Boden, auf der Suche nach Vermissten. Felsbrocken, so groß wie Einfamilienhäuser, wurden durch den zwei Wochen andauernden Regen über die Armensiedlungen von Caracas hinweggespült. Tonnenschwere Schlammlawinen erdrückten die aus Wellblech und Holzlatten zusammengezimmerten Hütten. Unermüdlich rackert Chávez sich ab, genauso wie seine Soldaten und zahlreiche Freiwillige, die nach Lebendigen und Toten suchen. Angestrahlt von den Kameralichtern der nationalen Fernsehkanäle, kann Chávez zeigen, dass er nicht so ist wie seine Vorgänger in Präsidentenwürden, die alle derselben verkrusteten Politikerkaste entstammten. Er steht bei seinem Volk und packt mit an. Die Botschaft ist klar: Dieser Mann ist keiner, der sich hinter seinem Schreibtisch verkriecht, wenn es eng wird. Das kommt an.
Venezuela erlebt die schlimmste Katastrophe des ausgehenden Jahrhunderts, die nach Schätzungen bis zu 30.000 Menschen das Leben gekostet haben könnte. Präsident Hugo Chávez nutzt die Krise, um sich in Szene zu setzen, und inszeniert die Rettung des Landes als Einmannshow. Dem Präsidenten fehlt es nicht an Durchhalteparolen: „Wenn sich uns die Natur entgegenstellt, werden wir gegen sie kämpfen“, zitiert er sein großes Vorbild, den Befreierhelden Simón Bolívar.
Das Unglück begann mit dem Referendum vergangene Woche. An demselben Tag, an dem Chávez über die maßgeschneiderte neue Verfassung abstimmen ließ, rutschten Schlamm und Geröll über ganze Dörfer hinweg. Am schlimmsten betroffen ist der an der Karibikküste gelegene Bundesstaat Vargas, wo 140.000 der insgesamt 350.000 Bewohner obdachlos wurden. Hier verschluckten die Geröllmassen komplette Ortschaften.
Wie viele Menschen in den Schlammmassen starben, ist bislang ungeklärt. Von mindestens 5.000 Toten wird ausgegangen, Hilfsorganisationen warnen, die Zahl der Toten könne auf 20.000 ansteigen. Mindestens 200.000 Menschen haben ihre Häuser verloren, und auch der Schiffshafen hat schweren Schaden genommen. Zwar blieb die Landebahn des einzigen internationalen Flughafens unbeschadet durch das Unwetter, allerdings ist die Straße, die Caracas mit dem Flughafen verbindet, nur noch einspurig passierbar – sonst geht es dort auf sechs Spuren zügig voran. In Caracas ist es zu Versorgungsengpässen gekommen, weil alle Lebensmittellieferungen und Hilfstransporte auf diese Straße angewiesen sind. Ganze Landstriche von Vargas gleichen einer Mondlandschaft. An den Berghängen vor Caracas lebten die Armen in spärlichen Behausungen. Nie hätten die Barackensiedlungen in diesen erdrutschgefährdeten Gebieten gebaut werden dürfen. Genau die Bewohner dieser Siedlungen sind es, die in Chávez die Rettung sahen und für ihn als Präsidenten gestimmt hatten.
Wo sonst Sonnenhungrige am Strand unter Palmen liegen, landen jetzt Fregatten der Kriegsmarine, die die Opfer der Tragödie evakuieren soll. Chávez’ Reaktion auf die Krise: Er schickt das Militär – darunter auch Elitetruppen, die sich von Hubschraubern in schwer zugänglichem Gebiet abseilen. Chávez hat eine große Fähigkeit, starke Antworten zu geben“, sagt Jesus Robles, Projektkoordinator beim „Lateinamerika Institut für Sozialforschung“.
Die Verwaltung des Landes ist chaotisch, Hilfsorganisationen versuchen, so wenig wie möglich mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Darum verlässt sich Chávez lieber auf das Militär. Doch statt die Gouverneure des Landes an einen Tisch zu bringen, um die Rettungsarbeiten zu koordinieren, will er selbst alle Drähte ziehen. Krisen sind für Politiker immer eine Chance, und Chávez will sie nutzen. Er denkt nicht daran, sich von einem Gouverneur, der noch zu einer der alten korrupten Parteien gehört, die Schau stehlen zu lassen. Sein Einsatz dabei ist hoch: Immerhin setzt er seine Macht aufs Spiel. Daher muss alles gut laufen. Bei einem Besuch in einer zum Flüchtlingslager umgebauten Schule sagt Chávez, noch immer in Uniform und mit rotem Käppi: „Die Situation wird bald wieder normal.“
Aber so einfach geht es nicht und schon gar nicht so schnell. Selbst Außenminister José Victor Rangel rechnet damit, dass „der Wiederaufbau von Vargas mindestens zehn Jahre dauern wird“. Der Staat hatte schon vor der Katastrophe kein Geld für Investitionen, auch der private Sektor ist pleite. Doch 200.000 Obdachlose brauchen Häuser und Arbeit. Eigentlich hatte Chávez für Anfang nächsten Jahres Wahlen angekündigt. Präsident, Parlament, Gouverneure und Bürgermeister wollte er neu wählen lassen. Hierfür wird vermutlich kein Geld mehr in den Kassen sein. Etwa siebzig Prozent der Bevölkerung gelten als arm, genauso viele wie sein Stimmenpotenzial vor der Katastrophe. Chávez hat hoch gepokert. Wenn er die Katastrophe erfolgreich meistert, ist er unsterblich. Wenn nicht, „sind seine Tage gezählt“, so Jesus Robles. Aber er ist gewohnt zu gewinnen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen