: Granteln zum Fest
Ein Haus ist ein Türchen. Vierundzwanzig Häuser sind ein Adventskalender. Warum Zugezogene im Oberbayerischen den Nikolaus hängen und die Alteingesessenen die Amerikanisierung fürchten ■ Von Jens Rübsam
Ein Knackpunkt dieser Geschichte liegt im Topographischen, da alle Beteiligten ohne Wegekarte nicht auskommen.
Auf der Wegekarte für die Ortschaften Althegnenberg und Hörbach, eigens herausgegeben für den Weihnachtsmonat Dezember, sind vierundzwanzig Linien eingetragen, jeweils am Ende einer Linie hockt ein dicker schwarzer Punkt. Von den vierundzwanzig dicken schwarzen Punkten sitzen neunzehn auf Althegnenberg, ganz im Norden einer bei Landmanns an der Karl-Steinhauser-Straße 10, ganz im Süden einer bei Czekallas an der Helgenau 35. Von den fünf dicken schwarzen Punkten, die auf Hörbach sitzen, findet sich der östlichste bei Woller-Schleichs an der Sandbrunnenstraße 4 und der westlichste bei Lais am Schulweg 7.
Angenommen, die Landmanns im Norden Althegnenbergs würden sich in der Früh aus dem Fenster lehnen und aus vollem Hals dem Herrgott einen „Guten Morgen!“ wünschen, die Czekallas im Süden Althegnenbergs würden wahrscheinlich aufschrecken. Vorausgesetzt, die Woller-Schleichs im Osten Hörbachs würden abends vors Haus treten und sanft dem lieben Herrgott einen „Gute Nacht!“-Gruß in den Himmel schicken, die Lais im Westen Hörbachs würden diesen mit Sicherheit aufschnappen.
Warum also benötigen alle Beteiligten dieser Geschichte einen präzise ausgetüftelten Wegeplan? Gerade so, als wäre Althegnenberg stattlich wie München und Hörbach gigantisch wie Berlin. Weil hier im Dorfe niemand mehr weiß, wer wo wohnt.
Unheimliches lässt sich dieser Tage in den oberbayerischen Gemeinden Althegnenberg und Hörbach beobachten. Täglich um halb sechs Uhr abends rücken aus der Dunkelheit mehrere Dutzend Menschen nahe an ein Haus heran – stets in freudiger Erwartung, stets ein wenig aufgekratzt, so als stehe im nächsten Moment der Heilige Stuhl im Türrahmen.
Es erscheinen die Hausbesitzer, heraus treten an diesem Abend die Rapps – mit einer Überraschung, mit feinem Gebäck und mit warmem Kinderpunsch, für Ältere zu haben auch mit Rum. Die Rapps, Kohlstattweg 17, gelegen inmitten von Althegnenberg, wohnen im Haus, das Kalendertürchen Nummer 18 ist. Die Überraschung für die Wartenden draußen: ein schaurig schönes Schattenspiel, aufgeführt hinter einem weißem Bettlaken: „Es war einmal ein kleines Mädchen, dem waren Vater und Mutter gestorben ...“
Ein Knackpunkt dieser Geschichte liegt freilich auch im Demographischen, da fast alle Beteiligten zu den Zugezogenen zählen.
Wie muss ein Zugezogener sein, der „Hennaberger“ oder „Hörbacher“ werden will? Welche Eigenschaften muss er haben? Was hat er zu tun? Was zu lassen?
Wer zuzieht nach Althegnenberg oder nach Hörbach, bleibt Zugezogener. Egal ist, ob man als Heimatvertriebener nach dem Krieg zuzog oder, wie die Rapps, vor sechzehn Jahren aus Dortmund oder, wie die Kutzners, vor acht Jahren aus München oder von irgendwoher gerade gestern.
Wehe, man setzt sich in der Pfarrkirche St. Johannes der Täufer auf den Stammplatz eines Einheimischen oder gar auf die falsche Seite, die Bänke links im Schiff gehören den Frauen, die Bänke rechts den Männern.
Wehe, man will nicht im Schützenverein vereint aus Büchsen schießen oder nicht im Liederkranz vereint Volksweisen proben oder nicht im Sportklub vereint dem Fußball nachjagen.
Wehe, man fährt als Mutter mit den Kindern Rollerblades und will nicht ratschen auf der Straße über Gott und andere Leut.
Wehe, man hat eine Idee, eine neue, eine ausgefallene. Wie beispielsweise in der Weihnachtszeit abends um halb sechs von Haus zu Haus ziehen. Ein Haus ist ein Kalendertürchen. Vierundzwanzig Häuser sind ein Adventskalender. Zuständig für die Überraschung sind die Hausherren.
Seitdem bei Kutzners in der Schmiedgasse an der Fassade ein Nikolaus an einem dicken Strick hängt, hören die Alten nicht auf zu granteln: „Jetzt hält hier scho die Amerikanisierung Einzug.“ Kutzners, die aus Wachstuch des Nikolaus Mantel nähten und aus Kupferrohren des Nikolaus Beine fertigten und dem Nikolaus Gummistiefel überzogen, sahen sich bangenden Fragen ausgesetzt: „Hat sich da jemand aufgehängt?“
Wer sich Althegnenberg mit dem Zug nähern will, der hat ungefähr so viel Mühe, wie in Wanne-Eickel einen Flieger zu erwischen. Nur noch siebenmal am Tag stoppt die Bahn, was ein Zeichen dafür sein könnte, dass es niemanden hierher zieht. Früher gab es siebenundzwanzig Halts am Ort, eine Fahrkartenausgabe und keine ICEs. Die kennt man hier auch heute nur vom Hören.
Wer sich Althegnenberg mit dem Wagen nähern will, nimmt die B 2, Deutschlands längste Bundesstraße. „10.000 Bewegungen in vierundzwanzig Stunden“ ergab die letzte Verkehrszählung vor Ort. Die Abgasbelästigung wurde nicht erfasst.
Wer in Althegnenberg einen Schlafplatz sucht, der muss in den Nachbarort ausweichen.
Wem in Althegnenberg nach Schwabentopf ist oder nach Allgäuer Lendchen, dem wird mitunter die Sportgaststätte am Waldesrand empfohlen. Von der sagen die einen: „Da geht kein Mensch hin.“ Von der schwärmt der Bürgermeister: „Die wird gut angenommen.“
Wer durch Althegnenberg spaziert, der sieht eine alte Wirtschaft mitten im Dorf – verriegelt. An der Scheibe prangt ein Schild: „Zwangsversteigert“. Es heißt: Funktioniere die Dorfwirtschaft, funktioniere das Dorf. Heute gehört die Wirtschaft der Sparkasse. Die Sparkasse sucht einen Käufer – nun, schon recht lange.
Wer weiter geht, sieht eine Bäckerei, in der auch Salz und Milch zu haben sind. Es heißt: Früher habe es vier Kaufläden im Dorf gegeben. Heute gibt es Supermärkte, kilometerweit weg.
Wer fortschreitet des Weges, sieht einen Bauern seinen Stall ausmisten. Es heißt: Früher hätten hier siebenundzwanzig Landwirte Schweine und Kühe gehalten. Heute gibt es nur noch zwei Milchbauern. Der eine hat keine Erben, der andere hat Erben, aber die wollen den Hof nicht weiter bewirtschaften.
Wer schlussendlich am Rathaus ankommt, trifft auf Bürgermeister Hilscher, der Bürgermeister ist seit dreiundzwanzig Jahren und dessen Platz in der Galerie der Dorfbürgermeister schon gerahmt ist.
Wenn Helmut Hilscher von der heutigen Zeit spricht, scheint es manchmal, als rede er von einem Verkehrsunfall mit tausend Verletzten, und manchmal, als diktiere er der Sekretärin Worte für einen Werbeprospekt in den Block. Immer klingt Bürgermeister Hilscher so, als sei er der Herrgott von Althegnenberg und Hörbach.
Hören wir Helmut Hilscher, 58, ein wenig zu.
„Das Anspruchsdenken der Neubürger ist gestiegen. Die kommen und verlangen von der Gemeinde, alles für sie zu tun.“
Zum Beispiel?
„Wenn ein Tier tot im Wald liegt, soll die Gemeinde das wegräumen. Wenn der Forst entscheidet, am Waldrand Buchen zu fällen, ist nicht der Forst Schuld, sondern ich.“
Was tut man für die Alteingesessenen?
„Wir bieten ihnen Baugrundstücke zum Vorzugspreis an. Zwischen 270 und 350 Mark kostet für die der Quadratmeter erschlossenes Bauland, für die Neubürger kostet er 480 Mark.“
Wie ist das Miteinander?
„Es ist auch bei uns so, dass der eine dem anderen das Leben nicht vergönnt. Ich wünsch mir ein bisschen mehr Menschlichkeit.“
Ist das zu schaffen?
„Wir haben eine starke Vereinstätigkeit: Sportverein, Freiwillige Feuerwehr, Krieger- und Soldatenverein. Neu ist ein Theaterverein. Wenn nun ein Neubürger hierher kommt und sich engagiert, dann hat er keine Integrationsprobleme im Dorf.“
Was kann ein Ortschef tun?
„Ich bin halt Mädchen für alles. Ich gebe den Leuten die Grabstellen. Ich habe die evangelische Kapelle gekauft. Ich hab einen Christkindlmarkt aufgezogen. Ich geb von meinem privaten Geld dem einen Schützenverein hundert Mark für die Weihnachtsfeier, und der andere Schützenverein kriegt von mir einen Geschenkkorb im gleichen Wert.“
Das Rathaus von Bürgermeister Helmut Hilscher wird Kalendertürchen 21 sein. Ein Bürgermeister muss schließlich Mädchen sein für alles. Den Kleinen wird er Gesangshefte reichen: „Wir singen Weihnachtslieder“, den Großen Glühwein. Vor den meisten der anderen Türchen ist Bürgermeister Hilscher nicht gesehen worden. Es wird vermutet, weil der lebendige Weihnachtskalender nicht Idee und Sache des verdienstvollen Bürgermeisters ist, sondern Idee und Sache der Zugezogenen.
Die harren aus an diesem 18. Weihnachtsabend am Kohlstattweg 17 wie eine Läuferschar vor dem Schuss aus der Pistole. Hinter dem Bettlaken hocken die Rapps und lassen die Puppen sprechen: „Da begegnete dem Mädchen ein armer Mann, der sagte: ,Gib mir was zu essen, ich bin so hungrig.‘ Und das Mädchen gab ihm alles, was es hatte.“ Auf den Lippen der Dörfler ist zu lesen: Schön, wieder mal zusammenzukommen – in einer Jahreszeit, wo man sich normalerweise abends nicht mehr vor die Tür wagt, sondern im Fernsehsessel zurechtrückt; in Zeiten, wo der eine seins macht und der andere seins; schön, wieder mal miteinander zu reden.
Die Kutzners sind da. Die Czekallas. Die Woller-Schleichs. Und auch die alte Frau Geiß ist gekommen, die schon fünfundzwanzig Jahre in Althegnenberg lebt, aber irgendwie immer eine Zugezogene geblieben ist.
Es regnet fürchterlich an diesem Abend in Oberbayern. Aber das macht nichts. Weil hinter dem weißen Bettlaken nun die Sterntaler vom Himmel regnen. Weil in dem breiten Topf auf dem kleinen Tisch vor dem Bettlaken der Punsch dampft. Weil die kleinen Teelichter auf dem kleinen Tisch vor dem Bettlaken tapfer Wind und Wetter trotzen. Und weil sich die Zugezogenen friedlich zuprosten: „Ach, schön ist das.“ Morgen wieder, bei Lais am Schulweg 7, vor dem 19. Weihnachtstürchen.
Der Knackpunkt dieser Geschichte ist: Alle Beteiligten werden im nächsten Jahr ohne Wegekarte auskommen, der Vermerk „Zugezogener“ aber wird bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen