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„Die Massen verteilen“

■ Ein 100-Jahres-Rückblick: Bremen feierte Silvester 1899 mit militärischem Tschingderassa-Bumm, einer Jahrundertpostkarte und vielen Gottesdiensten

Chinaböller? Endzeitstimmung? Jahrhundertparty? Mit Sekt oder Champagner – eher süß oder trocken? Worauf standen die Bremer Ur-ur-Großeltern und woher kam der Stoff? Überhaupt: Welche Gefühle trugen die HansestädterInnen ins neue Jahrhundert – und wo? Auf dem Marktplatz, der Bürgerweide – wer veranstaltete die größte Silvesterfeier der Stadt?

Viele Fragen – die heute niemand wirklich beantworten kann. Die letzten ZeitzeugInnen lagen schließlich noch in Mullwindeln – und selbst in den Archiven der evangelischen und katholischen Kirche klafft hier ein dunkles Nichts. Da hilft nur das Staatsarchiv, in Zeitungen schauen, suchen – auch wenn der Kollege zweifelt: „Zeitungen, gabs die in Bremen überhaupt?“. Es gab – die „Bremer Nachrichten“ beispielsweise, die auch einen verlässlichen Hinweis auf den Hype des ausgehenden Jahres 1899 liefern – den Postkartenrausch. Kein Witz.

Anlässlich der Doppel-Nullung in der Jahreszahl muss das halbe Reich in eine Art Postkarten-Wahn verfallen sein. Auch Bremen war – etwas verspätet – dabei. Als hier TrophäenjägerInnen am Freitag den 29. Dezember dafür sorgten, dass die aus Anlass der Jahrhundertwende gedruckten „Reichspostkarten“ um acht Uhr in der Frühe vergriffen waren, kamen aus Berlin bereits erste Meldungen über den schwankenden Sammlerwert der bunten Pappen. Zwischen 25 und 55 Pfennigen erzielte dort das Jahrhundertmotiv: Über der Jahreszahl 1900 eine aufgehende Sonne, davor die Göttin Germania, alles blumenumrankt. Doch kaum hatten sich die Schlangen der SammlerInnen vorm Postamt Domsheide verlaufen, kam mit der Mittagsausgabe der Bremer Nachrichten bereits die erlösende Meldung: Die Oberpostdirektion Bremen stelle weitere 50.000 Postkarten zur Verfügung.

Die Frage nach der größten Jahrhundertfete Bremens bleibt – tageszeitungsmäßig – leider unbeantwortet. Die Hofberichterstattung der Bremer Nachrichten ließ sich zwar über den kaiserlichen Empfang in Berlin aus – und im Detail auch darüber, welchen Eingang zum Schloss das Protokoll für welche Droschken vorsah, welche Handschuhe die Damen (weiß, Glacée) und welches Outfit die Herren („in Civil, mit weißen Unterkleidern“) zu tragen hatten. Auch stand fest, 33 Schuss Neujahrssalut sollten um Mitternacht abgefeuert werden – nach dem Kirchgang. Und das Musikcorps würde durch die Stadt ziehen und „Freut Euch des Lebens“ schmettern. Aufschluss über die Bremer Feierei geben derweil nur wenige Anzeigen privater Veranstalter.

Danach müssen die BremerInnen auf militärischem Tschingdarassa-Bumm allerdings gestanden haben. Im „Alt-Bremer-Haus“ jedenfalls wurde der Sylvester-Abend mit dem Oldenburger Dragoner-Regiment und „reichhaltiger Abendkarte“ angeboten. Und auch das „Restaurant Siedenburg“ annoncierte ein Silvester-Concert ab abends acht Uhr – mit Militärkapelle. Vorher konnte noch schnell Einkaufen gehen, wer etwas vergessen hatte. Den verkaufsoffenen Sonntag gab es nämlich schon 1899 – und zwar nicht nur an manchen Weihnachtssonntagen. Auch am 31sten Dezember, dem letzten Sonntag des Jahrhunderts, blieben die Geschäfte bis 18 Uhr geöffnet.

Von Knallkörpern allerdings ist keine Spur zu finden – auch nicht auf den Anzeigenseiten der lokalen Presse, wo aber für Cassella Sekt (zwei Mark), Amsterdamer Likör, Böhmische Schinken, frische Ananas – und Neujahrsgrußkarten geworben wird. Ansonsten dominiert in der täglichen Berichterstattung die Politik. Ganz groß: Der Krieg in Südafrika und das Festhalten des deutschen Schiffes „Bundesrath“ durch die Engländer. Erwähnt wird auch, dass eine Bürgerschaftssitzung noch vor dem Jahreswechsel geplant war. „Es scheinen noch wichtige Vorlagen vom Senat zu erwarten zu sein. Denn sonst ist eine Einberufung am Tage nach dem Feste fast unverständlich“, meldet der Berichterstatter. Trotz damaliger Morgen- und Mittagsausgaben der Zeitungen erfahren die BürgerInnen aber erst rund zehn Tage später, dass es um eine Gehaltsaufbesserung der Senatoren gegangen war. Reaktionen wurden nicht bekannt – vielleicht, weil die Bevölkerung bereits „vorgewärmt“ worden war, hatte doch erst die vorangegangene Bürgerschaft die Erhöhung auch der Beamtengehälter beschlossen. „Sobald die Herrschaften sich aber versichert hatten, dass ihnen ihre Gehaltserhöhungen bewilligt seien, verließen sie die Empore und fanden den Rathsweinkeller plötzlich als einen viel gemütlicheren Aufenthalt.“

Zwischen Meldungen über Treibeis bei Vegesack, Brake und Bremen, Leo Tolstoi in Moskau schwer erkrankt und boomenden Schnelltrauungen auf Helgoland kurz vor Sylvester findet sich schließlich der Hinweis auf eine der bremischen Hauptbeschäftigungen zum neuen Jahrhundert – dem Kirchgang. „Die Massen mögen sich verteilen“ empfahl der Senator für kirchliche Angelegenheiten. Alleine in der Domgemeinde wurden sechs Gottesdienste abgehalten – wobei die Predigten der Empfehlung zufolge „in geeigneter Weise“ dem Jahrhundertwechsel gedenken sollten. Soweit die amtliche Betrachtung. Denn auch damals schon gab es berechtigte Zweifel daran, ob der Jahrhundertwechsel überhaupt am 1. Januar 1900 stattfindet. So machte z.B. ein widerspenstiger Kasseler Schuldirektor Schlagzeilen. Der war nach Anweisung des Cultusministers, eine ordentliche Jahrhundertfeier in den Schulen abzuhalten, zwar vor die Schüler getreten. Hatte sich diesen aber nur als „Unterthan“ präsentiert, der hier ein „Opfer des Intellects“ bringen müsse – wie vom Minister befohlen. Er, der Director, sei jedenfalls der Ansicht, das neue Jahrhundert beginne erst am 1. Januar 1901. ede

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