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Die Parade der Geschmacksverirrungen ■ Von Ralf Sotscheck
Wenn das neue Millennium genauso ein Flop wird wie der mit soviel Trara angekündigte gleichnamige Virus, dann passiert in den nächsten tausend Jahren nicht viel.
Im Musikbereich zeichnet sich die Langeweile schon bei der ersten Hitparade des Jahres ab: In Irland und Großbritannien steht „I Have A Dream“ von Westlife an der Spitze. Die harmlose irische Boyband, die sich vor lauter Freude mit roten Plüschrentiergeweihen auf den Köpfen fotografieren ließ, hat sich auf Neuinterpretationen von Hits aus den siebziger Jahren spezialisiert. Lahmer geht’s nimmer.
Oder doch? Der Song, den die fünf Knaben kurz vor Weihnachten vom ersten Platz geschubst haben, hieß „Millennium Prayer“ von Cliff Richard. Der Altmeister hat auch abgekupfert – allerdings nicht bei den Siebzigern, sondern bei der Bibel: Sein Lied ist das Vaterunser, und zwar grauenhaft vertont. Es ist so widerlich, dass es sogar von den britischen Radiosendern boykottiert wird, die sonst nicht zimperlich sind, wenn sie die Hörer quälen können. George Michael, eigentlich kein Experte für guten Geschmack, bezeichnete Richards Lied als „ausbeuterisch und gemein“. Es gibt eine Menge anderer Adjektive, die auf die Betbosheit zutreffen.
Aber zumindest ist sie trendy. Seit zwei Jahrzehnten kommen pünktlich zum Fest garstige Songs mit weihnachtlichen Botschaften heraus, deren Interpreten darauf setzen, dass der Verlegenheitsgeschenkmarkt es schon richten und das Lied auf Nummer eins hieven wird. Dass Cliff Richard auf den fahrenden Zug aufgesprungen sei, kann man ihm allerdings nicht nachsagen, er melkt diesen Markt seit langem. 1988 konnte man wochenlang keinen Supermarkt betreten, ohne dass einen „Mistletoe And Wine“ sogleich in die Flucht schlug, zwei Jahre später schaffte er es mit „Saviour’s Day“ erneut. Mit dem „Millennium Prayer“ hat er die Schamgrenze knapp überschritten – nur der zweite Platz zum Fest.
Die Briten sind geradezu versessen auf die Weihnachtscharts. Wochen vorher spekulieren sie, wer diesmal die Parade der Geschmacksverirrungen anführen wird, und Wetten kann man natürlich auch darauf abschließen. Die Liste der Weihnachtskotztütenfüller ist lang, sie enthält den Sankt Winifreds Schulchor und die Spice Girls, den Band-Aid-Song für die hungernden schwarzen Babys und Bennie Hill, einen der unkomischsten Komiker, mit seinem Lied über Ernie, den schnellsten Milchmann des Westens. Tiefpunkt der Christmas Hits war Mister Blobby, die rosa Latexpuppe – genauso Kulturikone von bleibendem Wert und genauso künstlich wie der geliftete Cliff Richard.
Im Gegensatz zu Richard und dem anderen musikalischen Seichtgewicht, Andrew Lloyd Webber, ist Mister Blobby von der Queen noch nicht zum „Sir“ ernannt worden. Lloyd Webber hat im neuen Jahr Furchtbares vor: Er will ein Musical über den Nordirland-Konflikt komponieren. Kann die IRA, bevor sie ihre Waffen ausmustert, noch ein einziges Mal den Waffenstillstand aufheben und Sir Andrew ausmustern? Und seinen adligen Kollegen Sir Cliff gleich dazu? Es wäre im Sinne des Friedensprozesses, weil es die Geschmackssicheren unter den Protestanten und Katholiken einander näher bringen würde.
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