: Hauptsache, die Touristen kommen
Nach dem Tankerunglück in der Bretagne wird verschwiegen, dass man an Ölflecken schon lange gewöhnt ist ■ Aus Lorient Uwe Westphal
Bevor ich mich auf den Weg nach Quiberon begebe, rufe ich Klaus an. Klaus lebt seit sieben Jahren in der Bretagne und behauptet, dass hier die schönsten Männer der Welt anzutreffen wären. Genauer gesagt, sollen sich diese auf dem bretonischen Schwulenstrich, der zweispurigen Landstraße D 764 zwischen Plouharnel und Quiberon finden. Dort, wo kleine Seitenwege von der Straße hin zum Strand abgehen, dort, wo die Auto- und Motorradfahrt durch tiefe Schlaglöcher fast unmöglich wird, am Strand, gegenüber von weißen Dünen.
Hier trifft Klaus gewöhnlich seine Prinzen aus Carnac und New York, aus Berlin und Lorient. Der größte Treffpunkt der französischen und sogar europäischen Gay-Szene, behauptet er. Größter Vorteil: In den warmen Sommernächten sind die flachen Dünen und sandigen Strände niemals überfüllt. Auf etwa zehn Kilometer Länge verteilt sich so einiges. Auch diesmal hat Klaus, der sich seit einiger Zeit Claude nennt, nichts von seinem Enthusiasmus verloren. Ja, sagt er, ich soll mich sofort ins Auto setzen und nach Quiberon kommen. Jede Hand und Hilfe würden dringend gebraucht. Die Katastrophe, so nennt Klaus all das, was nach dem zerbrochenen Tanker „Erika“ passierte, hätte den ansonsten für ihn eher langweiligen Winter unterbrochen.
Klaus gehört seit nun einer Woche zu den freiwilligen Helfern, die sich beim „Notkomitee Ölpest“ vom Bürgermeister von Quiberon haben einteilen lassen. Ihr Job: mit dem eigenen Auto und anderen Helfern zu besonders verschmutzten Stränden fahren und die dort nun tonnenweise herumliegenden verklebten Algen zusammenharken. Und so finden sich an den Stränden überall kleine Häufchen von ölverschmierten Algenhügeln. Nicht weit davon entfernt kleine Trupps von mit gelben Overalls vermummten Figuren mit Rechen, Plastiksäcken, Schaufeln, Spülmittel und Schubkarren. Sysiphos lässt grüßen. Kaum einer, der hier nicht selten mit Tränen in den Augen Arbeitenden (oder sind das Schweißperlen?) reagiert auf meine Fragen. Gibt es keinen Bulldozer, die den Ölmüll auf Lastwagen verfrachten können? Warum geben die Einsatzleiter Gartenwerkzeuge statt adäquater Hilfsmittel aus?
Kaum sind die fleißigen Strandkehrer vom Ort ihrer Arbeit abgezogen, stürzten sich die hungrigen Möwen auf die verklebten Algenberge. Der Effekt ist absehbar. Vögel, die bisher noch davon kamen, werden nun Opfer der „Katastrophe“. Das ist aber eher Zufall als gescheiterte Planung oder daneben gedachte Logistik. Die Verantwortlichen in der Region Morbihan, wie überhaupt die gesamte Administration in der Bretagne, sind überfordert von den auf sie zuschwimmenden hunderttausenden von „crêpesgroßen Ölflecken“. Diese schwimmenden Pfannkuchen drohen den gesamten südwestlichen Küstenstreifen auf Jahre hin zu verschmutzen. Kommuniziert wird von den Offiziellen aber nur das ohnehin Erwartete. Ja, wir sind ärgerlich, sagen sie. Ja, wir tun alles Menschenmögliche, versprechen sie.
Hingehört wurde gerade noch zu Anfang, später war man mit dem durchs Land tobenden Sturm und den dadurch entstandenen Schäden beschäftigt. Selbst das führende Regionalblatt der Bretagne Ouest France, beklagt ein mangelndes Interesse der Bevölkerung an einem Zustand, den sie düster „Armageddon“ – jüngstes Gericht – nennen.
Warum das so ist? Niemand weiß eine Antwort darauf. Aber vielleicht, so liest sich zwischen den Zeilen, liegt das Desinteresse am jahrelangen Tiefschlaf der bretonischen Bürokratie. Alle Verantwortlichen mussten damit rechnen, dass ein größeres Tankerunglück wieder passieren würde. Immerhin sind allein in den letzten acht Jahren sechs Öltankerunglücke vor der bretonischen Küste und an den Stränden der Normandie passiert. In diesem Zeitraum wurde vor der Öffentlichkeit jeder Trick der Verharmlosung und schlicht des Verschweigens angewandt. Touristen sollten ungestört Urlaub machen. Berichte über Ölflecken auf dem Badetuch oder am Surfbrett störten und stören.
Vielleicht ist das der Grund, warum man jetzt Probleme hat, den Mobilisierungsapparat aus der Defensivhaltung herauszuholen. Zwar wäre, wie bei jeden anderem Skandal, die Flucht nach vorn mit der Enthüllung der ganzen Wahrheit der einfachste Weg aus dem Dilemma. Doch der wurde bisher nicht eingeschlagen.
Am deutlichsten war das beim Besuch von Premierminister Lionel Jospin an den ölverseuchten Stränden zu spüren. Als hätte irgendeine der katholischen Dorfgemeinden die Federführung beim Staatsbesuch aus Paris gehabt, hielten bretonische Fischer und Umweltschützer dem obersten Franzosen, der in seinen eleganten kleinen Lederschuhen übers heranströmende Wasser getragen werden musste, ölverklebte, tote Möwen und Fische vor die Nase. Gerade so, als könnte der Politiker schlecht sehen oder hätte die wundersame Gabe, Tiere wieder zum Leben erwecken zu können. Tatsächlich aber taten die bretonischen Akteure nur das, was sie schon bei der Havarie der „Amoco Cadiz“ 1978 taten: Sie zeigten Präsenz. Vertrauten auf die Wirkung der Bilder. Sonst nichts.
„Wir Bretonen sind einfach dumm“, kommentiert Gilles Berre das Ereignis. Berre arbeitete bis zu seiner Pensionierung neun Jahre für die Fährgesellschaft, die jedes Jahr hunderttausende von Touristen auf die Quiberon vorgelagerte Prachtinsel Belle Île bringt. „Unser kleinkarrierte Regionalismus erlaubt uns noch nicht einmal mehr, klare Forderungen an die Regierung in Paris zu stellen. Aus dieser Region zu kommen, darauf kann man heute nicht mehr stolz sein.“ Berre möchte am liebsten sofort die französische Armee an den Stränden zum Einsatz bringen. „Damals“, erinnert er sich, „als die ,Amoco Cadiz‘ unsere Strände verseuchte, damals haben wir Bretonen noch zusammengehalten. Demonstriert haben wir für Hilfe aus Paris, gleichzeitig aber selbst gehandelt. Heute haben die Politiker uns doch an die EU-Hilfe abgeschrieben. Wir sind für Paris, was die Polen für Deutschland sind: ein landwirtschaftliches Produktionsgebiet.“ Zerknirscht, selbstkritisch gesteht Berre: „Unsere Identität ging verloren, weil wir in der Vergangenheit lebten. Vielleicht bringt uns diese Ölpest ja zur Besinnung. Nur mit hübschen Stränden, Boutiquen, Schweinezüchtern und Folklore kann unsere Region nicht überleben.“
Der Vergleich der jetzigen Ölpest mit jener aus dem Jahre 1984 hält kaum einer genaueren Überprüfung stand. So deutet es Laurent Bettini an, der 22-jährige Student und Kellner im elterlichen Restaurant „Le Suroit Quiberon“. „Damals haben sich die Leute noch wirklich darüber aufgeregt, das war die Generation der 68er. Und die ,Amoco Cadiz‘ war eine wirkliche Katastrophe. Greenpeace kam hier her und verteilte Flugblätter“, meint sich Laurent an seine Kindheit zu erinnern.
„Und heute?“ Leicht abwertend, aber nicht verzweifelt schaut er auf die Touristen, die im Restaurant auf die nächste Fähre vom Gare Maritime zur Belle Île und Île d’Houat warten. „Die Leute haben sich verändert. Sicher, das Öl an den Stränden ist schon schlimm, wir werden Touristen verlieren, aber im nächsten Jahr kommen die schon wieder.“ Und was ist mit den zirka 20.000 am Öl erstickten Vögeln? „Das ist traurig. Aber wir machen auch nicht so ein Theater, wenn ein kalter Winter tausende von Vögeln umbringt.“
Nachdem Laurent Bettini vier Tage am Strand mit Spachteln an den Felsvorsprüngen der Landspitze von Pointe du Conguel versuchte, die dunkelbraune, klebrige Ölmasse abzuschaben, wird er sich jetzt mit seinen Freunden nicht mehr darum kümmern. „Was du an einem Tag wegschaffst, ist am nächsten wieder da.“ Auch Laurent möchte Soldaten, Arbeitslose und sogar Gefängnisinsassen für die Reinigungsarbeiten einsetzen.
Die Bretagne war noch nie ein Hort sozialliberaler Ideen. Dass das aber nun ein Grund für seine Ablehnung der grünen Umweltministerin Dominique Voyet ist, darf man kaum annehmen. Bettini hält sie schlicht für arrogant. Und damit teilt er die gewiss Meinung vieler anderer Bewohner von Quiberon. Die Politikerin ist seit ihrem verniedlichenden Statement, die Ölpest sei nicht so dramatisch, hier nicht mehr besonders beliebt.
Ein Schicksal, das sie mit den Meteorologen der Region teilt. Auf die darf man niemanden hier ansprechen. Obwohl schon die ersten Ölpfützen die Küsten der Belle Île verseuchten, gab der Wetterdienst weiter Schönwettermeldungen heraus.
Die Ignoranz der Meteorologen – das war mit ein Anlass, warum vor allem diese Insel so schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ein anderer liegt in der Ignoranz der Behörden. Noch am Donnerstag vergangener Woche weigerte sich das Bürgermeisteramt, kostenfreie Schutzkleidung und Schaufeln für freiwillige Helfer bereit zu stellen, die bis aus England und Irland angereist kamen. Eine unüberbrückbare Hürde erscheint den Organisatoren der Säuberungsarbeiten auch der Fährpreis zur Belle Île. „Ich würde jeden Tag locker zwölf Stunden am Strand arbeiten und die Vögel versorgen, wenn ich einen Freitrip zur Insel bekäme“, erklärt mir Fred, der aus Southampton über St. Malo nach Quiberon kam. Fred ist 27 Jahre, Biologe, Umweltschützer und frustriert. Bei verschiedenen Protestaktionen gegen den Bau einer Autobahnverbindung nach London – durch Hampshire in den Twyford Down – mischten er und seine Freundin Sue mit. Die Lage hier am äußersten Zipfel der südwestbretonischen Halbinsel erscheint allerdings beiden völlig aussichtslos. Mit den zynischen Kommentaren der bretonischen Umweltschützer können die beiden wenig anfangen. Die klammheimliche Freude einiger über den drohenden Touristenschwund, fallende Immobilienpreise oder den Bankrott der teuren New-Age-Schönheitskliniken in Quiberon teilen Fred und Sue nicht. „Ironie ist die Logik der Sklaven. Wer so redet, hat schon verloren.“ Mit dem nächsten Zug geht für sie die Fahrt weiter ins Baskenland. „Zu Leuten, die besser drauf sind“, hoffen sie.
Und dennoch bewegt sich etwas. „Mit Schwerpunkt auf die sichtbaren und prominenten Strände“, erklärt Laurent Bettini, schürften jetzt Bulldozer ganze Sandflächen vor den Uferboulevards ab. Schon im April will man die ersten Läden für Touristen wieder öffnen. Dann sollen auch die Strände und Fischerboote wieder im alten Zustand sein. Damit es so weit kommt, haben sich die große Kadaververwertungsfabriken an der Landstraße D 768, die ansonsten nur die Viehskelette von den zahlreichen bretonischen Schlachthäusern verarbeiten, mit den Küstenorten solidarisch erklärt. Fast zum Selbstkostenpreis will man sich der am Öl verstorbenen Vögel und anderen Viecher annehmen. Eine Geste, mehr nicht – aber auch nicht weniger. Wahrscheinlich ernster gemeint, als der übliche Zynismus, der zu solchen Anlässen gern vorgetragen wird.
„Unsere Küsten sind schon lange keine Naturparadiese mehr“, erklärt mir Gilles Berre die bretonische Welt. Sicher, die Austernproduktion und der Fischfang haben extrem gelitten, aber wen stört es in wenigen Monaten schon, wenn man hier statt bretonischer Austern japanische schlürft. Die sind oftmals billiger und sogar schmackhafter, weiß er zu berichten. Und Moules frites, frage ich? Gebratene Muscheln – kein Problem. Alles wird da sein zur Saisoneröffnung. Die Bretonen rechnen mit massiven Finanzspritzen aus dem Hilfstopf der EU. Jospin wird dafür bei der nächsten Wahl mehr Stimmen bekommen als irgendein Sozialist in der Bretagne zuvor. So hat eben alles seinen Sinn.
Auch mein Bekannter Claude sieht schon nach wenigen Tagen Schwerstarbeit an der ölverschmierten Küste optimistischer als zuvor aus. Endlich hat die Wintersaison einmal neue Leute nach Quiberon gebracht. Und erstmals findet man am Strand mehr ölverschmierte, achtlos hingeworfene Gummihandschuhe als Kondome.
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