: Am letzten Tag weinen Präsident und Volk
Mit seinem Rücktritt verschafft Jelzin Putin Vorsprung – und sich ein ruhiges Alter
Moskau (taz) – Als Boris Jelzin am letzten Tag des Jahres in einer Fernsehansprache überraschend seinen Rücktritt erklärte, griff er zum letzten Mittel, das ihm die Sympathien und das Mitleid der Bürger Russlands noch sichern konnte. Er bat um Verzeihung (siehe „Letzte Worte“ rechts). Und prompt haben viele Fernsehzuschauer zu Hause mitgeweint, als ihr scheidender Präsident sich eine Träne von der Wange wischte.
Wie viele Menschen habe auch er selbst geglaubt, Russland könne in einem Schritt aus der grauen, stagnierenden, totalitären Vergangenheit in eine strahlende, reiche und zivilisierte Zukunft gehen, „aber einige Probleme waren zu komplex“.
In seiner Ansprache verwahrte sich Jelzin gegen alle Unterstellungen, er habe erwogen, sich über die Frist hinaus an sein Amt zu klammern. „Ich habe immer gesagt, dass ich nicht einen Schritt außerhalb der Verfassung tun würde.“ Seinen Entschluss, am letzten Tag des alten Jahrtausends zurückzutreten, habe er nicht aus gesundheitlichen Gründen gefällt.
Bei seinem Rücktritt unterzeichnete Jelzin einen Erlass, der in Übereinstimmung mit der Verfassung die präsidialen Amtspflichten für den Zeitraum von drei Monaten dem Ministerpräsidenten Wladimir Putin überträgt. Wegen des Rücktritts werden die ursprünglich für Juni geplanten Präsidentenwahlen bereits Ende März stattfinden. Der Schritt Jelzins vergrößert die ohnehin großen Wahlchancen des Premiers, der sich schon bereit erklärt hat, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Nach den soeben abgehaltenen Duma-Wahlen verfügt die Regierung mit drei ihr nahe stehenden Fraktionen über eine Mehrheit im Parlament. Die größte dieser Parteien, Einheit, auch Bär genannt, verdankt ihren Wahlerfolg der Unterstützung des Ministerpräsidenten.
Der Vorsprung, den Jelzin durch seinen Rücktritt seinem „Wunschnachfolger“ verschafft, entspricht dem Bedürfnis einiger seiner Familienmitglieder und hohen Beamten, ihre Macht und ihre Privilegien über die Amtszeit des scheidenden Präsidenten hinaus zu verlängern. Das Verlangen nach einem Nachfolger aus den Reihen der Dynastie deckt sich praktischerweise mit dem für Russland neuen Brauch, den Führer des Landes vom Volk wählen zu lassen.
Die Korruptionsvorwürfe gegen Kreml-Funktionäre und Mitglieder der Jelzin-Familie, vor allem gegen Präsidententochter Tatjana Djatschenko, konnten bis heute nicht entkräftet werden. Dementsprechend bestand die erste Amtshandlung Putins in seiner Eigenschaft als Interimspräsident in der Unterzeichnung eines Dekrets, das Jelzin und seiner Familie Immunität vor möglichen Strafermittlungen garantiert. Außerdem werden Jelzin darin eine Altersversorgung und die Nutzung eines Regierungslandsitzes auf Lebenszeit zugesagt sowie Leibwächter und Gesundheitsfürsorge für ihn und seine Familie.
Verstummt sind in Moskau die Diskussionen über eine Verfassungsreform. Das vorige Parlament wollte damit die von Jelzin häufig genutzte Macht des Präsidenten beschneiden, Regierungen wie Zinnsoldaten ein- und abzusetzen. Die Politologin Lilija Schewzowa von der Moskauer Carnegie Foundation meint, dass der Versuch, die Ära Jelzin ohne Jelzin fortzusetzen, die russische Gesellschaft teuer zu stehen kommen werde: „Der Verlauf der Duma-Wahlen hat die Rolle unseres Parlaments noch mehr entwertet. Der Kampf um die Nachfolge in seiner gegenwärtigen Form verschärft das Streben unserer Politiker, sich aneinander zu rächen und sich gegenseitig zu erpressen – und bei solchen Emotionen ist niemandem nach Reformen zu Mute.“ Barbara Kerneck
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen