: „Dobry den, ja jsem Tabea“ ...
Guten Tag, ich bin Tabea.“ Und lerne Tschechisch. Eine grenzenlose Schule in Ostsachsen führt Eltern und Kinder der Grenzdörfer Hartau und Hradek zusammen. Zweisprachige Reformpädagogik vereint Menschen, die lange getrennt waren ■ Aus Hartau Margret Steffen
„Dobry den“, sagt Tabea, akzentfrei, aber mit verschämtem Lächeln. Und riesiger Zahnlücke. Der zweite Knirps grübelt noch nach einer tschechischen Begrüßungsformel. „Ja jsem Marius“ – Ich heiße Marius.
Die beiden Sechsjährigen sind zappelig. Sie gehen in die erste zweisprachige Grundschule im östlichsten Zipfel Sachsens, direkt an der Grenze zu Tschechien, und noch immer sind die neuen fremden Worte aufregend.
Die freie „Grenzenlose Schule Hartau-Hradek“ unterrichtet eine erste und zweite Klasse zusammen. Das Besondere dabei ist der ständige Austausch mit einer tschechischen Partnerschule. Einmal in der Woche überqueren die Klassen die Grenze, um in Hartau oder Hradek die neue Sprache zu lernen.
Das Interesse der Deutschen im Dreiländereck von Polen, Deutschland und Tschechien Tschechisch zu lernen ist bisher verschwindend klein. Und das, obwohl Tschechien gute Aussicht auf einen baldigen EU-Beitritt hat.
Vor der Schultür wehen anstelle zweier Landesflaggen Windsäckchen aus bunten Stoffstreifen - eins für Deutschland, eins in Blau-weißrot für Tschechien. Im Klassenzimmer stehen Pflanzen, CD-Player, Sitzwürfel aus Gummi und für jedes Kind eine Teetasse mit Namen drauf. Wer bockig ist, kann sich in die „Schmuse-Ecke“ oder „routek na ctení“ verdrücken. Buchstaben hängen an der Wand, darunter jeweils ein tschechischer Begriff zur Erklärung.
Fünf niedrige Tische stehen im Raum verteilt – „Ich mag keinen Frontalunterricht“, sagt Ute Wunderlich. Sie ist einzige Lehrerin und Schulchefin zugleich. In Hartau will sie freie Pädagogik verwirklichen, „ohne von Kollegen beargwöhnt zu werden“. Für die Schule ist sie bis zehn Uhr abends auf Achse. Aber das macht nichts, sagt sie vergnügt und fährt sich durch die kurzen Haare.
Ute Wunderlich dirigiert die krakeelenden ABC-Schützen zur Hintertür hinaus, wo sie toben und rennen und brüllen können. Oder vom Klettergerüst ins weiche Gras fallen und auf Bäume steigen. Hinterm Schulgarten zum Greifen nah der blauschwarze Gebirgszug am Horizont, wo Tschechien liegt.
Das Dorf Hartau gehört offiziell zur Kreisstadt Zittau, die eine Dreiviertelstunde Fußmarsch entfernt ist. Viel näher als die Provinzmetropole aber ist die Grenze. Wer sie hinter dem letzten Gehöft überquert, erreicht nach wenigen hundert Metern Hradek „nad Nisou“, an der Neiße. Früher Grottau. „Grote“ sagen die Leute hier und lassen das „r“ in der Kehle rotieren wie Amerikaner.
Tabea kann das hervorragend imitieren. Jetzt aber macht sie zusammen mit Marius Ordnungsdienst – jedes Kind hat Aufgaben im Schulhaus, das gehört hier zur Reformpädagogik. Pflichtbewusst sortieren sie vergessene Klamotten in den Flur, klauben Heuhalme auf. Mitten im Raum steht nämlich das Geschenk vom Schulanfang. Eine Hartauerin hat den Kindern zwei fette Rosettenmeerschweinchen vermacht. Beim lärmigen Schulbeginn im September roch es deshalb nicht nur nach frischverlegtem Teppich, sondern auch nach erschrockenem Meerschwein und seinem Futter.
Den Nachbar vom Hof nebenan freute sich über die Wiederbevölkerung des alten Hartauer Schulhauses. Wären die grenzenlosen Schüler nicht eingezogen, stünde es leer. Es gibt zuwenig Kinder in der Region. Früher war das anders, „da gab’s auch noch kein Fernsehen“, sinniert Günter Hoffmann, Hartauer seit Geburt. Als Junge war er bis 1948 selbst Schüler hier. Zittau war weit weg, die erste Buslinie in die Stadt stand erst 1954. Umso näher waren die Menschen in Hartau Grottau. „Zum Frisör musste ich dahin, der Arzt von dort kam zu uns.“ Das Hartauer Trinkwasser ist bis heute tschechisch. Alle übrigen Verbindungen kappte das Kriegsende.
„Diese Staatsgrenze gibt es seit 1635, aber sie war noch nie so trennend wie in den letzten 50 Jahren. Ein gewisser (Einkaufs-)Tourismus täuscht nicht darüber hinweg, dass es ein bloßes Nebeneinander, eine sprachliche Hilflosigkeit untereinander ist.“ So schildern 1998 besorgte Bürger dem sächsischen Bildungsministerium die regionalen Defizite. Sie fordern den Kultusminister auf, sich für Tschechischunterricht in der Region stark zu machen.
Der heutige Geschäftsführer der Grenzenlosen Schule, Mike Wohne, formulierte mit. Wohne träumte schon damals von zweisprachigem Unterricht. Um Talentförderung soll es gehen, erläutert er die Hartauer Pädagogik, nicht um Höchstleistungen. Lehrer seien mehr Berater als Vermittler. Der Unterricht orientiert sich am sächsischen Lehrplan. Die Kinder sollen später ja auch aufs Gymnasium können.
Mike Wohne kennt die meisten Eltern. Gemeinsam haben sie das Klassenzimmer renoviert und schon die Teesorten erörtert fürs künftige Schulfrühstück. Viele sind Zuzügler aus Westdeutschland, die der Job in die hinterste Ecke Sachsens verschlagen hat. Sie hat vor allem das freie Schulkonzept angezogen. Aber die Kids für 90 Mark monatlich hierher zu schicken, nur um überdauertem DDR-Drill zu entgehen, ist nicht der Maßstab für Wohne: „Interkulturelle Begegnung wird bei uns mit eingekauft.“
„Begegnungssprache“ heißt das Zauberwort. Kinder sollen sich samt Eltern mit Familien der jeweils anderen Seite anfreunden, dann kommt auch die Sprache von allein. Nicht umgekehrt. Ohne diese sprachliche Grundlage steht die Region einer EU-Grenzöffnung unvorbereitet gegenüber. In Zittau stehen auf neuen Wegweisern die deutschen Vorkriegsnamen der tschechischen Städte. Dahinter, in verschämten Klammern, der tschechische Namen. Junge Neonazis sind allgegenwärtig im Stadtbild. Wenn Tschechen deutsche Freunde besuchen, kontrolliert der Bundesgrenzschutz misstrauisch wegen Schwarzarbeit.
Noch vor einem Jahr wollte nur ein einziger Zittauer Lehrer Tschechisch lernen, um es später zu lehren. „Kein Bedarf“ hieß es in den Schulen. Die Hartauer Grundschüler aber haben nun einen Tschechischlehrer. Kamil Prischin sieht aus wie ein großer Junge und kommt von weit her aus Ostböhmen.
Bisher hat der 23jährige in Hradek Deutsch unterrichtet. Hier in Hartau darf er offiziell nur ein Praktikum machen. Er wartet sehnlich auf die Arbeitserlaubnis vom deutschen Arbeitsamt. Dort sucht man noch nach einem deutschen Ersatz für ihn. Vorschriftsmäßig und erfolglos.
Kamil war eben mit den Kindern am Grenzübergang. Die Bäume jenseits der Schranke sehen jedenfalls nicht anders aus, stellten die Steppkes dort fest. Die Schrift auf den Schildern aber schon. Genau hier nehmen die deutschen Kinder wöchentlich die tschechischen in Empfang.
Der Freistaat Sachsen macht Werbung für Französischlernen. Auch die vereinzelten Arbeitsgruppen „Tschechische Sprache“ an den Schulen haben freistaatliches Wohlwollen. Das Ministerium aber lehnte die Grenzenlose Schule Hartau-Hradek lange ab, weil es an einem Staatsvertrag zwischen Deutschland und Tschechien fehle.
Nach fast vier Jahren Behördenmarathon und wenige Tage vor dem Schulstart genehmigte der Freistaat dann – ein reduziertes Konzept: Die gemeinsamen Stunden in Werken, Musik und Sport dürfen offiziell nicht „Unterricht“ heißen. Also nennt die Grenzenlose Schule sie „Projekttage“.
Heute nun holen die deutschen Kinder endlich die tschechischen von der Grenze ab. Warm eingepackt sind sie alle, die Morgensonne wärmt wenigstens ein bisschen. Die kleinen Hradeker lärmen aufgekratzt in den Morgen. Sie sind mit ihrer Lehrerin die Ersten am Schlagbaum – für sie in Kinnhöhe. Leicht verspätet biegen die Deutschen in die Grenzstraße ein. Hände werden geschüttelt, über und unter der Sperre.
„Dobrè ráno, já jsem ...“ Guten Morgen, ich heiße ... Die kleinen Tschechen staunen. Es kann losgehen.
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