: Die Schweiz verfehlt den großen Wurf
Nach dreißigjähriger Diskussion hat die Schweiz eine neue Verfassung. Wichtige Bereiche bleiben von der Reform ausgespart
Genf (taz) – Was lange währt, wird endlich gut. Gar nicht wahr. Das zeigt die am 1. Januar in Kraft getretene neue Bundesverfassung der Schweiz. Über 30 Jahre lang hatten zahlreiche Parlamentsausschüsse und Sonderkommissionen über eine umfassende Revision des Dokumentes diskutiert, mit dem die Helvetische Konföderation 1848 begründet worden war.
Doch als der Berg schließlich kreißte, gebar er eine Maus. Der Text der neuen Verfassung, der seit Dezember 1998 zunächst von den beiden Kammern des Berner Parlaments und dann bei einer Volksabstimmung abgesegnet wurde, enthält nur unwesentliche inhaltliche Neuerungen. In erster Linie handelt es sich um eine für die Bürger übersichtlichere Zusammenstellung bestehender Verfassungsbestimmungen sowie um administrative Reformen von Exekutive und Legislative.
Bislang per Verfassung geregelte Fragen, wie etwa das Verbot des Spirituosenverkaufs an der Haustür, sind in dem neuen Dokument nicht mehr enthalten. Dafür sollen künftig einfache Gesetze genügen.
Neu aufgenommen wurde lediglich ein Katalog bislang ungeschriebener Grundrechte, die im Laufe der letzten Jahrzehnte entweder durch Urteile des Schweizer Bundesgerichts oder durch Beitritt der Schweiz zu internationalen Verträgen Verfassungskraft erlangt haben. Zu den wichtigsten Bestimmungen gehört das ausdrückliche Verbot der Diskrimierung aus rassischen, religiösen, sexuellen oder anderen Gründen.
Trotz oder auch gerade wegen dieser bedeutenden Einzelverbesserungen stieß das Gesamtergebnis nirgendwo auf große Begeisterung. Bei der Volksabstimmung votierten lediglich 59 Prozent der Eidgenossen mit Ja – bei einer Beteiligung von etwas über einem Drittel der Stimmberechtigten.
Rechtskonservative Kreise sehen in der neuen Verfassung einen „Blankoscheck für die Auflösung der Schweiz, mit dem das Volk hintergangen“ werde. Und Sozialdemokraten und Grüne bemängeln, aus der umfassenden Grundsatzreform sei „nicht mehr als eine Aufräum- und Entrümpelungsaktion“ geworden. Mit dieser „mut-und substanzlosen Verfassungsreform“ sei der „überfällige Aufbruch der Schweiz zu neuen Ufern verpasst worden“.
Tatsächlich wurden bei der Verfassungsnovellierung wichtige Bereiche mangels Konsens unter den Parteien ausgespart und auf künftige Beratungen des Parlaments verschoben: Zum einen die für eine föderative Zukunft der Schweiz entscheidenden Beziehungen zwischen dem Bund und den Kantonen. Dabei geht es nicht nur um Kompetenzaufteilung und Finanzausgleich, sondern auch um die Frage, ob die in ihrer Größe, Bevölkerungsstärke und Wirtschaftskraft höchst unterschiedlichen 24 Voll- und zwei Halbkantone künftig in sieben bis zehn vergleichbare Kantone zusammengefasst werden sollen.
Ausgespart blieb auch eine umfassende Justizreform. Klar ist lediglich, dass es zu der noch bis Mitte letzten Jahres angestrebten Einrichtung eines Schweizer Verfassungsgerichts nicht kommen wird. Hier hat die Mehrheit der Berner Politiker inzwischen der Mut verlassen.
Politisch am umstrittensten ist die von der Regierung geplante Neuregelung der Mitbestimmungsrechte des Volkes. Mit dem Argument, die Schweiz etwa in der Außenpolitik handlungsfähiger machen zu wollen, hatte der Berner Bundesrat vorgeschlagen, künftig das Einbringen von Volksinitiativen zu erschweren. Das aber stößt insbesondere bei den rechtspopulistischen und den linksgrünen Teilen des politischen Spektrums auf tiefe Skepsis.
Andreas Zumach
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