: Die radikale Utopie von Kluges Knie
Filmessays aus 30 Jahren oder von einem, der auszog, den Kompromiss zu besiegen: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“ – Alexander Kluges filmtheoretische Schriften erinnern an eine ferne Zeit, als es den deutschen Film noch gab ■ Von Eike Wenzel
Die meisten kennen Alexander Kluge als von glücklicher Belesenheit getragene Off-Stimme mit Großmuttertimbre aus den Mitternachtsmagazinen „10 vor 11“ und „News&Stories“. Wenn der Fernsehgucker im Schlafanzug seinen letzten Kontrollgang durch die Kanäle unternimmt, kann er sich von den erregt-zärtlichen Dialogen fesseln lassen, die der überzeugte Sokratiker Kluge mit dem todkranken Heiner Müller über griechische Dramatik oder mit dem fingierten Stasioberst a.D. Komorowski über die Mumifizierung der Leiche Lenins führt.
Die Weichheit der Stimme könnte fast darüber hinwegtäuschen, dass der Fernsehmacher, Gesellschaftstheoretiker, Jurist, Filmregisseur und Erzähler Alexander Kluge seit nunmehr einem Vierteljahrhundert Medienpolitik ohne Kompromisse macht. Seichte Mittelwege sind ausgeschlossen, sie bedrohen das Unternehmen eines neuen Kinos. Kluge war Mitinitiator des Oberhausener Manifestes 1962 („Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen“), Mitbegründer der ersten bundesdeutschen Filmakademie innerhalb der Ulmer Hochschule für Gestaltung, hauptverantwortlich dafür, dass es in der Bundesrepublik ab 1967 eine Filmförderung gibt, usw.
„In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“, heißt der von Christian Schulze herausgegebene Band, in dem noch einmal eine Reihe film- und medientheoretischer Äußerungen Kluges von den Sechzigern bis in die frühen 90er versammelt sind. Kluge hat (gemeinsam mit Edgar Reitz) 1974 einen Film mit dem gleichen Titel gemacht, in dem zwei erfundene Frauenfiguren, eine ostdeutsche Agentin, Rita Müller-Eisert, und die Beischlafdiebin Inge Maier, durch das reale Frankfurt der frühen Siebzigerjahre zigeunern. Rita Müller-Eisert ist eine eigensinnige Spionin und bekommt sehr bald Schwierigkeiten mit ihrem Vorgesetzten, da sie ihren realsozialistisch gezüchteten Röntgenblick am falschen Objekt einsetzt. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten, „der Marx im Original liest“, hat sie nämlich festgestellt, dass die wirklichen Geheimnisse in der Alltagswirklichkeit der Bundesrepublik liegen; „so genannte Staatsgeheimnisse“, sagt sie, „kann ich am übernächsten Tag in der FAZ nachlesen“.
Als surreale Denk-Figuren bringen Kluges weibliche Helden unsere Schablonen, von dem was erfunden und was real, was in einem Spielfilm und was in einem Dokumentarfilm abzuhandeln ist, durcheinander. Politische Ereignisse wie der Frankfurter Häuserkampf erscheinen dann plötzlich auf bizarre Weise aus unserem Tagesschau-Blick entrückt, wenn ein Karnevalszug (diesjähriges Motto: „Komm mach mit, lach dich fit“) ein von Baggern umstelltes Abrissgebiet durchkreuzt. Wie die Frauenfiguren in seinen Filmen hat Kluge sich nie an Genreschubladen gehalten. Die Trennung in fiction und fact ist für ihn ein Ergebnis der Fernsehbürokratie, „Anstaltsdenken“. Einem Film mutet er die gleiche assoziative Weiträumigkeit zu wie einem theoretischen Essay.
1979, als ausgerechnet die als Soap-Opera verschriene amerikanische „Holocaust“-Serie in der Bundesrepublik einen kollektiven Erinnerungsschock auslöste und Jean-François Lyotard in Frankreich „La condition postmoderne“ veröffentlichte, schickte Kluge in seinem Film „Die Patriotin“ eine Geschichtslehrerin und das Knie eines bei Stalingrad gefallenen Soldaten auf die Suche nach der deutschen Geschichte. Ein Knie deshalb, da es als Körperteil eigentlich gar nicht existiert und so von den Geschichte machenden Bomben nicht getroffen werden kann. Kluge entnahm diese „unmögliche“ Figur einem Gedicht von Christian Morgenstern. Aus dem Blickwinkel eines untoten Knies erscheint der Raum von mehr als zweitausend Jahren Geschichte in verqueren Assoziationsketten abschreitbar, und es lassen sich radikale Fragen erörtern wie zum Beispiel „Kann man der deutschen Unheils-Geschichte entkommen?“, „Was unternimmt man als Knie gegen die Entschlossenheit eines Hirns, das in den Kessel von Stalingrad rennt und darin umkommt?“.
Ähnlich verstörend, assoziationsreich und von ironischer Gelassenheit unterfüttert lesen sich Kluges film- und medientheoretische Beiträge, die man besser als strategische Eingriffe bezeichnen sollte, da sie flexibel auf ästhetische Debatten innerhalb des Ulmer Instituts, medienpolitische Zäsuren (Einführung des Privatfernsehens) oder auf Polemiken gegen seine Filme reagieren, aber niemals mit dem Gestus der Spezialistenfilmtheorie festhämmern wollen, was Film „als solcher“ zu sein hätte. Für Kluges multimediales Arbeiten gilt, was der Lebensgefährte unserer Ost-Agentin aus Marxens „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ vorliest: „Sinnlichkeit ist die Basis aller Wissenschaft“. Filmtheorie muss sich in Bildern und Tönen fortsetzen, und umgekehrt muss ein Film denken können und denken machen.
Als zu Beginn der Sechzigerjahre der deutsche Film am Boden lag und Schriftsteller in Biedermeierdeutschland als Pinscher beschimpft wurden, hat Kluge an den Möglichkeiten eines den Gewohnheitsblick aufsprengenden Verhältnisses zwischen Wort und Bild herumgedoktert und sich dabei mit den Konzepten der Nouvelle Vague, mit Antonioni und dem Nouveau Roman beschäftigt. Als die Linke Mitte der Siebzigerjahre ihre Wunden leckte und, enttäuscht von den politischen Parolen, nach Innerlichkeit verlangte, hat Kluge mit Beharrlichkeit darauf hingewiesen, dass die schärfste Ideologie darin bestehe, dass die Realität sich auf ihren realistischen Charakter berufe, während das Subjekt unter diesem Realitätsprinzip seine eigene Geschichte nicht erzählen könne.
Statt in süße Melancholie zu verfallen oder marxistischer Kunst-Orthodoxie das Wort zu reden, hat Kluge sich in den Siebzigerjahren für einen Realismus stark gemacht, der die Wiederspiegelungspostulate verwirft. In seinem Konzept verschmelzen hoch brisante Begriffe der linken Alltagssemantik der damaligen Zeit. Realismus bedeutet für Kluge Protest, Protest des Subjekts gegenüber der Wirklichkeit. Realismus ist immer ein Verhältnis des (Film machenden oder Film sehenden) Subjekts zur Realität.
Ein solcher Protest bedeutet Arbeit an der Realität, das Herstellen von Zusammenhängen – und nicht die Zerstörung des Gegners. Wirklichkeit soll als vielgestaltige Polyphonie kenntlich werden, jedoch niemals auf Resultate festgelegt, die als süffige Botschaften im Film formuliert werden.
In seinen Realismus-Essays erkennt man Kluge als späten Modernisten, der bei Brecht, Proust, Joyce und dem Stummfilm der Zwanzigerjahre gelernt hat, aber die Avantgarde-Prinzipien Montage, Collage, Polyperspektivismus zur brotlosen Kunst erklärt, wenn sie nicht dazu dienen, den Erfahrungsfilm des Zuschauers zu stimulieren. Wo heutzutage in den kulturwissenschaftlichen Seminaren allerorten von „active audiences“ die Rede ist, bekommt ein Blick auf Kluges aus Überzeugung unaufgeräumte Theoriebaustellen neue Aktualität. Für ihn ist das Werk nicht das Elementare – der Film im Kopf des Zuschauers ist wichtig, und wie das Kino diesen Film in Bewegung zu setzen vermag. Deswegen braucht es nach Kluge eigentlich auch keine Filmtheorie, es reicht eine Theorie der Erfahrung, die Film als lustvoll-kritisches Verständigungsinstrument beim Blick auf unsere Realität ernst nimmt. Schlechtes Kino und Privatfernsehen werden ohnehin nur durch bessere Filme, nicht durch gescheites Reden über Film kritisierbar.
Kluges konkrete „Utopie Film“ (unter dieser Überschrift firmieren sein erster Text von 1964 sowie weitere Kurzessays von 1979 und 1983) belastet das einzelne Werk mit dem Anspruch, „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (so lautet bekanntlich auch der Titel von Kluges erster gesellschaftstheoretischer Studie, die er zusammen mit Oskar Negt verfasst hat) zu organisieren. Mit dem Blick von heute klingt das alles merkwürdig weltfremd – so wenig traut man dem deutschen Film inzwischen noch zu.
Im deutschen Komödienwunder der Neunzigerjahre, so scheint es, wurden die Leinwände der Nation endgültig eingeseift, und man musste sich von dem Gedanken verabschieden, jemals wieder Sujets mit einem Wirklichkeitsbezug angeboten zu bekommen, der über die Feststellung, dass das Leben eine „irre verrückte“ Beziehungskiste in Seidenbettwäsche und mit schwarzem Benz 300 Turbodiesel vor der Tür sei, hinausgelangt – „Komm mach mit, lach dich fit“. Ein deutsches „Dogma“ ist nicht in Sicht, aber mit Kluge hat es einmal ein Anti-Dogma gegeben, das spätestens Mitte der Achtzigerjahre fürs Kino verloren war, als Kluge ins Privatfernsehen abwanderte.
Für Kluge scheitert ein Film dann, wenn er, wie bei den Hitchcock-Epigonen, den Zuschauer in den Bann der Handlung zieht, infantile Ängste auslöst und das alltägliche Erleben ausgrenzt. Die mittlerweile zum Grundrezept für die billigsten Daily-Soaps heruntergekommene Suspense-Dramaturgie (an ihr vor allem machen sich seine Vorbehalte gegenüber dem Stress-Kino fest) stiehlt dem Zuschauer die eigene Lebenszeit und treibt ihn tendenziell weg von seinem Film der Erfahrung, der eben nicht alltäglich mit Bomben unter Tischen umgeht.
Wenn man wissen will, wie eine Kino-Utopie aussieht, die dem Zuschauer Zeit zurückgibt, indem sie Filmbilder als Katalysatoren öffentlicher Diskurse anbietet, sollte sich in die lange Polemik „Die Macht der Bewusstseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit“ von 1985 hineinknien. Hier findet man auch eine erschütternd klare Analyse darüber, dass nicht so sehr das zu fürchten ist, was das Privatfernsehen kann, sondern was es nicht kann: vielstimmige Wirklichkeitsbilder zu bauen, die Platz schaffen für eigenes Denken.
Wer Kluges filmtheoretische Interventionen heute liest, mag über die trotz aller Verschmitztheit auffällige Ernsthaftigkeit, die ungebremst-assoziative Intelligenz und die programmatische Kampfbereitschaft amüsiert sein. Man kann dies alles aber auch als traurige Dokumente dafür lesen, dass mit dem Neuen Deutschen Film einiges verloren gegangen ist.
Alexander Kluge: „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik“ (hg. v. Christian Schulte). Berlin 1999, Vorwerk 8. 320 Seiten. 38 DM
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