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Alles Wollen auf das Scheißen reduzieren

Frank Castorf inszeniert „Das obszöne Werk: Caligula“ an der Volksbühne. Albert Camus trifft auf George Bataille, der Kaiser trägt eine Unterhose, und Urin wird im Sektglas serviert. Nennen wir es utopische Selbstkastration für das 21. Jahrhundert ■ Von Christiane Kühl

Sie stöhnt und will und presst, doch – nichts. Eine kühle Schönheit geht von der jungen Frau gleichwie der weißen Kloschüssel aus, auf der sie hockt, und man ahnt, dass eine wie sie sich selten umsonst bemüht. Allein gegen die Natur ist sie machtlos. „Nichts, gar nichts. Morgens nichts, abends nichts. Nichts. Seit drei Monaten gar nichts.“ Den Kaiser wundert das wenig: „Alle jungen Menschen sind so.“ Deshalb ist die Welt, so wie sie ist, ja auch nicht mehr zu ertragen.

Der Mensch und die innere Leere, Drang, Lust und Scheingefechte, Kapitulation und Macht – es hätte eine großartige Aufführung werden können. Für die dritte Inszenierung der „Ohne Glauben leben!“-Spielzeit an der Volksbühne hat Frank Castorf zwei Texte bearbeitet, deren gottlose Helden Paradebeispiele für das Potenzial der Perversion geben: Die Abweichung von der Norm als anarchische Kraft, die Diversität einklagt und in diesem Sinne grundlegend lebensbejahend ist. Neu ist diese Idee nicht, aber nach dem totalitären Siegeszug des Kapitalismus durchaus neu zu diskutieren. George Bataille setzte bereits Ende der Vierzigerjahre der „Unzulänglichkeit des klassischen Nützlichkeitsprinzips“ die „bedingungslose Verausgabung“ entgegen. Leider, so der französische Schriftsteller, genehmigt sie sich der moderne Mensch nur noch in der Jugend. 16-Jährige sind die Helden seiner „Geschichte des Auges“, die Castorf gemeinsam mit Albert Camus' 1945 uraufgeführtem „Caligula“ inszeniert hat.

Auch dem jungen römischen Kaiser scheint die Welt in ihren geordneten Bahnen wie ein Gefängnis, dem er durch Ausschweifungen zu entfliehen sucht. Doch während Batailles Protagonisten sich ganz ihrer sexuellen Energie hingeben und den gesellschaftlichen Utilitarismus mit privater Verschwendung untergraben, wählt Caligula nach eigenen Angaben „von den zwei Arten des Glücks die des Mörders“. Paradoxerweise tut er das, weil er die Welt noch nicht ganz aufgegeben hat: Sein willkürliches Morden soll die Sinnlosigkeit derart potenzieren, dass sie als Herausforderung wirkt. Es gelingt: Verschwörer lynchen den Tyrannen.

Castorfs „Das obzöne Werk: Caligula“ nimmt beiden Utopien die Sprengkraft, weil es keine von beiden ernst nimmt. Caligula ist eine blasierte Schwuchtel (wie immer eine Freude anzusehen, aber es hilft nichts: Bernhard Schütz), die viel von Einsamkeit redet, aber keine zwei Minuten allein sein kann. Sein Verlangen nach dem Absoluten – Bring mir den Mond! – ist der launische Wunsch eines verwöhnten Kindes umgeben von einem Chor der Debilen, die man mit Buh!-Schreien ganz schrecklich erschrecken kann. Statt landesweiten Terrors gibt es elende Gruppendynamik. Und da er beim Sackhüpfen nicht verlieren kann, droht der Kaiser in Metzgerschürze und Unterhose den Siegern mit dem Messer. Gewalt als Ergebnis von Langeweile und männlichem Spieltrieb: big news.

Auch der Erzähler der Geschichte des Auges (Matthias Matschke) und seine Komplizin Simone (Kathrin Angerer) werden zu Witzblattfiguren. Statt radikaler, exzessiver Selbstverwirklichung ungehemmt von Moral und Tabus bestimmt sie eine deplatzierte spießige Verklemmtheit – daran ändert auch das Urintrinken aus dem Sektglas nichts. Die von Bataille beklagte Selbstkastration haben sie sauber vollzogen.

Allein der dritte Teil der dreistündigen Vorstellung springt elegant zwischen Camus und Bataille, integriert nach guter alter Castorf-Manier theoretische Exzerpte und bricht die Rollen in Figur, Spieler und Kommentator. Kurzfristig entsteht eine Dynamik, die vorher nur durch Sir Henrys musikalische Einrichtung behauptet werden konnte. Der zuvor vermiedene Exzess wird mit Sektflasche, Hütchen, männlichem Ausziehn!-Gebrüll und einer professionellen Stripperin simuliert. Natürlich kann man das so lesen, als sei dies der lächerliche Grad der Ausschweifung, den der Regisseur uns heute zutraut. Dann hätte er das Ohne-Glauben-Leben verdammt ernst genommen: Selbst der Glaube an den Eros fehlt. Alles Wollen im 21. Jahrhundert wäre wie in der ersten Szene auf das Scheißen reduziert, und nicht mal das funktioniert. Keine Befreiung nirgendwo. Auch dieses Theater leidet an der universalen Verstopfung.

Heute, 19.30 Uhr. Die nächsten Aufführungen am 9. und 14. Januar. Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

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