Slapstick in der Intellektuellenhölle

Wenn Kunst und Künstlichkeit über sich selbst nachdenken: Philip Tiedemann inszeniert Thomas Bernhards „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ am neuen Berliner Ensemble

Nichts vermag sich begeisterter anzuschauen als ein aus dem Ei gepelltes, vor Neugierde und Spannung vibrierendes bürgerliches Premierenpublikum. Dieser Tage begegnet es sich ständig selbst: Nachdem am Samstag zunächst Claus Peymanns trompetender Engel, später dann George Tabori mit der Uraufführung seiner „Brecht-Akte“ das neue Berliner Ensemble eröffnet hatte, musste es sich schon einen Abend später erneut zur Wiederaufnahme von Thomas Bernhards „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ zusammenfinden, das Philip Tiedemann im vergangenen Jahr für das Stadttheater Klagenfurt inszenierte.

Der 30-jährige Oberspielleiter ist mit Abstand das Jüngste, was das neue Berliner Ensemble zu bieten hat. Bevor Claus Peymann ihn ans Burgtheater holte, inszenierte er in Freiburg und Basel. Ruhm über Wien hinaus erlangte Tiedemann durch seine Inszenierung der Bernhardschen Peymann-Dramolette; „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ wurde im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Anders als der neue Schaubühnenleiter Thomas Ostermeier, der von der Schauspielschule in seine erste „Intendanz“ an der Baracke rutschte, anders auch als der Volksbühnen-Newcomer Sebastian Hartmann, dessen Karriere den Weg übers Off-Theater nahm, hat Tiedemann sich in Stadt- und Staatstheatern hochgearbeitet. Vielleicht bezeichnet ihn auch deshalb niemand als jungen Wilden. Eher gilt er als frischer Klassiker, der mit seinem Boss die Leidenschaft für Thomas Bernhard und Peter Handke teilt.

Das Ei, aus dem das Publikum gepellt schien, taucht bei Tiedemann auf der Bühne (Bild: Etienne Pluss) auf. In monströser Größe schält es sich langsam aus dem Dunkel, beginnt sich sacht zu bewegen, aus der Hüfte sozusagen, und vollführt zu bauschigen Walzerklängen einige zarte Drehungen. Ein Stückchen Schale fehlt und enthüllt Schattenspiele, später Bernhards Welt, die bourgeoise Intellektuellenhölle.

In „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ denken Kunst und Künstlichkeit über sich selbst nach. Ein blinder Säufer (Traugott Buhre) wartet mit seinem Arzt (Michael Maertens) auf die Ankunft der Tochter (Maria Happel), die als weltberühmter Koloraturstar an diesem Abend die Königin der Nacht in Mozarts „Zauberflöte“ singen wird. Larmoyant doziert der Doktor über die Zergliederung menschlicher Leichen, seziert jedoch tatsächlich das destruktive Verhältnis von Vater und Wundertochter. Vom anatomischen Theater über misanthropischen Kulturpessimismus zur Seelensektion: „Es müsste doch eine ungeheure Befriedigung sein, eine Maschine als Tochter zu haben!“

Philip Tiedemanns Inszenierung übersetzt Bernhards boshafte Jammerarien in detailverliebten Bodytalk. Körper und Stimmen folgen einer schrägen, kammermusikalischen Partitur, die mit dem eingespielten Mozart konkurriert: Der Vater säuft im Basso continuo, die Koloraturen kichernde Tochter streitet mit dem dauerquäkenden, verquält im Stuhl turnenden Doktor um die Melodieführung. Trotz der schauspielerischen Präzisionsarbeit bleibt die komische Absurdität dieses Gestengefechts in Slapstick stecken – weil sie zu erschöpfend illustriert, was der Text behauptet: Kunstfertigkeit und schnöde Mechanik sind deckungsgleich.

Nach der Pause und nach der Oper sitzen Vater, Tochter und Arzt schick bei den „Drei Husaren“. Es ist, als blicke man durch die Fenster des benachbarten Restaurants „Ganymed“, an dessen edel-weiß gedeckte Tische sich der distinguierte Berliner Theaterbesucher selbst in einer halben Stunde setzen wird. Vielleicht wird er mit solch beherzt sublimierender Fleischeslust sein Steak Tartare mit Ei verkneten, wie Maria Happel es tut, bevor ihre Stimme und damit die künstliche Königin stirbt. Vielleicht wird er so besessen die Premiere loben und am Burgunderkorken schnuppern wie Michael Maertens, vielleicht auch mit der gleichen bockigen Trunkenheit schweigen wie Traugott Buhre. Tiedemanns Geschöpfe werden bei diesem Mahl gewiss nicht stören. Eva Behrendt

Die nächste Aufführung findet statt am 18. Januar, 19.30 Uhr, im Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1