: Das Projektil bin ich
Im Gedichtband „Fernhandel“ betrachtet Thomas Kling Fotos aus dem Ersten Weltkrieg. Alles stellt er in Frage, nur die eigene lyrische Stimmgabel nicht ■ Von Guido Graf
Die Metapher vom Sprachkörper hat etwas Vereinnahmendes. Sinnfällig kommt hier in einem Begriff zusammen, was Geist und Natur, Ausdruck und Bedeutung trennt. Niemand in der gegenwärtigen deutschen Dichtung bedient das verführerische Bild dieses Silbenspiels mit Körperanalogien so sehr wie Thomas Kling. Textadern, Fleischspeicher und Mundmagnet setzte er schon 1986 in dem Privatdruck „Amptate“ ein. Sein dichterisches Verfahren hat er an anderer Stelle als „konzentriertes Zergliederungswerk“ beschrieben, als „kunstreiche Öffnung von Körpern, Ausübung des Pathologenberufs am Körper Geschichte; Sprachkörperbetrachtung“.
Zu Recht verweist er darauf, dass das Mittel der Metapher schon alt ist. Ironiefrei benutzt, ganz der Verführungskraft des Bildes hingegeben, das Teilhabe der Sinnproduktion am Sinnlichen verspricht, wird es dadurch heute nicht besser.
Auch um gerade das aufzufangen, war Klings Lyrik immer von einer etwas achtzigerjahrehaften Technikaura umgeben, mit einem klinisch kühlen Blick ausgestattet, der sich auch im neuen Band „Fernhandel“ am „pumpen saugen fiepen züngelnder geräte“ berauschen kann.
Kling vertraut auf seinen ureigenen Sound, der nun sehr satt und wuchtig auftritt, in neuen, eher gedeckten Tönen. Die lautsprachliche Überzeichnung, wie sei vor allem die Bände „brennstabm“ (1991) und „nacht.sicht.gerät“ (1993) beherrschte, ist zurückgenommen, stattdessen gibt es eher gediegene Langverse. Was fehlt, ist der Rhythmus, der sonst die Wortbildungsnervosität in erregendes Zeilengeflimmer verwandelt hat. Der Sprachinstallateur Kling als Geschichtsschreiber wirkt in diesem lyrischen Archiv des Krieges und seiner Metamorphosen gelähmt, fasziniert und ein wenig erhaben vor seinem Material. Kompensiert wird das bisweilen durch einen soldatischen Ton, der mehr gezwungen als ironisch wirkt.
Laut, leis und fies, scheppernd und schnarrend, säuselnd und feldwebelnd spricht Kling seine Gedichte auf einer dem Buch beiliegenden CD, die leider nur wenig von dem spektakulären Sprechen eines ganz auf die lyrische Performance konzentrierten Dichters vorführt. Auf dem Papier verflacht das Spiel mit Resonanzen, weil ihnen die starken Akzente abgehen, mit denen Kling seine Gedichte virtuos zu rhythmisieren weiß. Schwarztöne und Herztöne rauschen, und allen Dingen, Ideen und Wahrnehmungen soll etwas entlockt werden.
Die umfangreiche Abteilung, die „Fernhandel“ einleitet und den Ersten Weltkrieg thematisiert, zeigt Klings großen Spagat zwischen eigener und großer Geschichte, der manchmal verunglückt, aber auch Raum schafft für Anteilnahme, anrührende Beobachtung, scharfen Spott. Um dahin zu gelangen, muss allerdings ungewohnt viel erhabenes Material beiseite geschafft werden. Die Schnell- und Kurzschlüsse, die kantig knappen Wort- und Versbrüche, mit denen Kling seine Deutung sonst befeuert, sind einer neuen lyrischen Kontinuität gewichen, einem getrageneren Rhythmus: gekonnt koketter Klassizismus.
Dafür arbeitet Kling viel mit Echoeffekten: das historische Material zum Ersten Weltkrieg, das er aus der Betrachtung alter Photografien gewinnt, erhält Präsenz durch Namen, Daten, Orte. Noch da, wo es unnachahmlich Klingscher Rasierklingen-, Amplituden- und Seziersound wird, ist nun unweigerlich der Dichterwille zu erkennen, die bloße Performance der Sprachinstallation, wie Kling früher seine Auftritte nannte, in die „rhythmische historia“ übergehen zu lassen. Es wird so viel in die Langverse geladen, wie der „papierkörper“ eben speichern kann.
Nicht wenig leidet der lyrische Gestus Klings jedoch an der Sehnsucht, das Medium Sprache verlassen zu können und – wie gehabt – einen reineren, unmittelbaren Zugang zu Mnemosynes Schätzen zu gewinnen. Mnemosyne heißt die Göttin der Erinnerung, ihre Hilfe braucht, wer die Mythen aufs Neue erzählen will.
Mnemosyne bedeutet auch: die Erinnerung der Lebenden an die Toten. Bei Kling wirkt die Erinnerung wie eine Diaschau über den Ersten Weltkrieg, die sich medientheoretisch geschult zeigt und immer wieder Bedingungen von photografischem Material reflektiert.
Bisweilen ist das bewegend, und es entstünde fast so etwas wie eine geläuterte, das Grauen bewahrende Sentimentalität, wenn, symptomatisch, Kling auf flach aktualisierende Pointen à la „CNN Verdun“ auch mal verzichten würde. Wichtiger ist jedoch, wie Kling sein Verfahren beschreibt: Schichten werden abgetragen, ab- und aufgelöst, freigelegt. Sichtbar wird, was porös ist. „Lochfraß des lichts“ geht durch die „schutzlacke der gesichterreihen“ und hinterlässt „testserien ihrer blicke“. Gewandet in nostalgisch rostfarben-technoides Vokabular, schreibt Kling traditionelle romantische Vorstellungen vom reinen Sinn fort, der immer nur verschüttet, übertüncht ist, vergessen im Gestöber der großen Allerweltsbeliebigkeit.
Das Klingsche Losungswort hießt „synapsenslang“: Das ist der Gestus, der Sound – etwas, was sich wie von selbst zu Gehör bringt in den Echos lautlicher Assoziationen, wenig erschüttert mit dem Anflug lässigen Bescheidwissens über den erbarmungswürdigen Zustand der Welt, heute wie früher, allein die eigene lyrische Stimmgabel steht außer Frage.
Der kühle Blick, der alles pathologisiert, wirkt selbstverständlich und belanglos zugleich: „betrachten ist schmerzforschung. / kahlheit nackter bildprogramme. / sirrendes, singendes, zuletzt ein / stummgemachtes fleisch.“
Desillusionierung ist sicher nicht Klings Programm, dem kommt ein „immer flackerndes ohr“ zuvor, das Sinngeräusche aus dem großen Reichtum der Wörterbücher zu reißen versteht. Die Kehrseite gibt Kling gleich mit und sagt: Ich bin das Projektil. Von diesem Selbstbewusstsein kann sich ein Leser kaum verschonen lassen.
Thomas Kling: „Fernhandel“. Gedichte. DuMont. Köln 1999. 102 Seiten, 38 DM
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