Auf die Plätze, Schulen, los!

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte werden Deutschlands Schulen dieses Jahr auf den Prüfstand gestellt. In der Vergleichsstudie Pisa wird die Leistung von Schülern nach Bundesland und Schulform gemessen. Benotet werden aber eigentlich die Lehrer ■ Von Ralph Bollmann

Argumente für eine bloße „Olympiade“ der Bundesländer und Schulformen will die Studie nicht liefern

Berlin (taz) – Diesmal geht es nicht um Noten, sondern – schlimmer noch – ums Prinzip. 49.700 SchülerInnen werden im Mai und Juni über ihren Testaufgaben brüten. An 1.280 Schulen in ganz Deutschland sollen die 15-Jährigen konkretes Wissen in Mathematik und Naturwissenschaften ebenso unter Beweis stellen wie fächerübergreifende Kompetenzen und ihre Fähigkeit, Texte wirklich zu verstehen.

Bis Ende 2001 werden die Wissenschaftler des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung brauchen, um die Fragebögen auszuwerten. Dann liegen zum ersten Mal in der Geschichte des deutschen Bildungssystems Zahlen auf dem Tisch: In welchen Bundesländern lernen die SchülerInnen mehr, in welchen weniger? Welche Schulen haben trotz widriger Umstände Erfolg, und wo hapert es trotz bester Rahmenbedingungen? Erstmals sollen SchülerInnen und SteuerzahlerInnen, die viel Zeit und Geld in die Schulausbildung investieren, erfahren, was dabei eigentlich herauskommt. Bislang blieb ihnen eine Antwort auf diese Frage verwehrt. SchülerInnen und Eltern, LehrerInnen und Schulbehörden waren sich in einem Punkt stets einig: Den Erfolg eines guten Unterrichts kann man nicht messen.

Der Kulturschock kam 1997. Damals veröffentlichte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Ergebnisse ihrer Dritten Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie („Timss“). Das ernüchternde Ergebnis: Im Vergleich der 44 beteiligten Staaten ist Deutschland bestenfalls noch zweitklassig. Der „Timss-Schock“ löste in der deutschen Schuldebatte eine „empirische Wende“ aus: Was für die SchülerInnen gut ist oder schlecht, sollte nicht länger eine Glaubensfrage sein. Die Pädagogik sollte von einer Religion zur Wissenschaft werden.

Lange genug hatten sich Deutschlands 16 Kultusminister um – wie die Studie zeigte – nebensächliche Fragen gestritten. Gesamtschule oder Gymnasium? Zentralabitur oder nicht? Bildung für alle oder strikte Auslese? Derlei Strukturfragen, das demonstrierte der Vergleich der verschiedenen Schulsysteme, beeinflussen die Leistungen der SchülerInnen kaum. Auf den Unterricht kommt es an.

Den Kultusministern fällt es schwer, sich von solchen Mythen zu verabschieden. Da schimpfen die Bayern über den Bildungsverfall in nördlichen Gefilden, und aus Düsseldorf schallt der Vorwurf eines autoritären Kasernenhofstils zurück. Doch nach dem „Timss-Schock“ konnten sich die Prinzipienreiter dem öffentlichen Druck nicht länger verschließen. Im Herbst 1997 fassten die Minister ihren „Konstanzer Beschluss“, bei der Timss-Nachfolgestudie „Pisa“ erstmals jenen innerdeutschen Vergleich zuzulassen, den sie sonst um jeden Preis vermieden.

Die Lehrergewerkschaft GEW hingegen steht jeder Art von Qualitätskontrolle weiter kritisch gegenüber. „Vom Wiegen wird die Sau nicht fetter“, glaubt GEW-Vorstandsmitglied Marianne Demmer. Die OECD habe womöglich nichts anderes im Sinn als die „Rationalisierung des Bildungswesens aus Kostengründen“. Obendrein bezweifelt die Gewerkschafterin, „ob der angenommene Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zum Aufwand steht“. Vor allem aber fürchtet sie einen neuen Schulkampf in Deutschland: Die Reformpädagogik würden „zur öffentlichen Hinrichtung geführt“, so Demmer. Es drohe „Vernichtungskonkurrenz mit Zielrichtung Gesamtschulen“.

Doch platte Argumente für eine bloße „Olympiade“ der Bundesländer und Schulformen will die Studie gar nicht liefern. Das betont Hermann Lange, der als Staatsrat in der Hamburger Schulbehörde dem deutschen Pisa-Beirat vorsitzt. Bei den Tests im Frühsommer wollen die Forscher auch Daten zum schulischen Umfeld erheben: Wie ist die Sozialstruktur des Stadtviertels? Wie viele SchülerInnen mit Sprachproblemen gibt es? Was in Langes Augen wirklich interessiert, sind genau jene Unterschiede, die nach Abzug solcher Handicaps noch übrig bleiben: „Warum erreichen verschiedene Schulen unter gleichen Bedingungen bessere oder schlechtere Ergebnisse?“ Deutschlands Pädagogen, das hat eine der ersten Vergleichsstudien hierzulande, die Hamburger „Lernausgangslagenuntersuchung“, bewiesen, müssen sich auf harte Zeiten einstellen: Die Fähigkeit zum Umdenken ist angesagt. Die bisherigen Förderprogramme für Problemschulen beispielsweise müssen womöglich komplett neu konzipiert werden. „Ihr kompensatorischer Effekt wurde überschätzt“, sagt Lange.

Gern behaupten die Pädagogen, die deutschen Defizite beim Faktenwissen würden durch eine stärker ganzheitliche Erziehung kompensiert. Die Studien, die es bislang gibt, deuten jedoch auf das Gegenteil hin: Deutsche SchülerInnen, so das ernüchternde Fazit der Timss-Studie, leisten oft nur Dienst nach Vorschrift: Sie sollen wiederholen, was der Lehrer an der Tafel vormacht. Selbstständiges Denken zählt nicht zu ihren Stärken.

„Vom Wiegen wird die Sau nicht fetter“, heißt das Argument der Gegner des Schul-Leistungsvergleichs

Die Verfechter von Schulvergleichen versichern eilig, die Lehr- und Lernmethoden des Spitzenreiters Japan ließen sich hierzulande nicht kopieren. „Warum sind die deutschen Bundesländer alle gemeinsam schlechter als Holländer oder Schweizer“ – auf solche Fragen allerdings erhofft sich der Hamburger Staatsrat Lange Antworten aus der innerdeutschen Studie.

Für Bernd Wurl, Mathematikdidaktiker an der Freien Universität Berlin, beginnen die Missstände schon bei der Ausbildung der Lehrer. „Deutschland hat die ältesten Lehrer, die längsten Ausbildungszeiten, den höchsten Anteil an reinem Fachstudium, den geringsten Anteil an schulpraktischer Ausbildung“, umreißt Wurl das „Effizienzproblem“.

Wenn die SchülerInnen im Mai und Juni die Testbögen ausfüllen, geht es also doch um Noten – diesmal aber nicht für die SchülerInnen, sondern für die LehrerInnen.