■ Kolumne
: Die Treue der Stammgäste

Ich saß neben dem Telefon und dachte an Nago, als es klingelte. Er war dran. „Was ist mit Dir? Du rufst gar nicht mehr an.“ – „Entschuldige bitte Nago, aber ich hatte Grippe, ich konnte nicht ... arch-arch --- hust!“ – „Als Kranker bist Du ausgezeichnet. Vielleicht möchtest Du heute im Tele 5 auftreten? Der letzte Abend, bevor sie schließen.“

So saß ich mit Nago auf der Fensterbank im Tele 5. Das Lokal war so voll, dass wir fast nichts sehen konnten – bis auf einen dicken Bauch, der sich vor uns gequetscht hatte, und einen Parka, auf den der Bauch einredete: „Werberlokal würde ich jetzt nicht sagen – ich zum Beispiel, ich war immer hier. Und ich bin gar kein Werber.“ „Der Bauch macht Kurzfilme, solche, für die im Privatfernsehen immer die Spielfilme unterbrochen werden“, raunte Nago mir zu.

Der Parka fingerte in seinen Parkataschen herum, der Bauch redete weiter: „Zumachen muss das Tele 5 jetzt angeblich, weil alle seine Stammgäste nach Berlin umgezogen sind. Wenn Du mich fragst: Das stimmt nicht. Die Stammgäste sind einfach keine Stammgäste geblieben. Weil es heutzutage gar keine Stammgäste mehr gibt, weil es eigentlich gar keine Treue mehr gibt.“ Der Parka kniete inzwischen auf dem Fußboden: es war der Rockjournalist Henning Stieg. Was hatte der zwischen den Füßen der anderen Gäste zu suchen?

„Dieser Bauch glaubt womöglich an sein Gerede“, sagte Nago zu mir. „Warum ist Kulturpessimismus wieder so modern?“, fragte ich. „Kulturpessimismus ist modern, seit es Kultur gibt. Oder seit es Pessimismus gibt. Ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall schon länger, aber solange sich Rentner, Schnorrpunks und Lifestyle-Fotografen Hunde halten, kann Treue kein so unpopulärer Wert sein.“

Der Lifestyle-Fotograf Arnold Stelters beugte sich mit drohendem Blick zu mir herunter: „Meint Ihr mich? Hast Du nicht vorige Woche geschrieben, ich würde mir die Schamhaare abrasieren?“ – „Die Schamhaare? Das wußte ich noch gar nicht“, nuschelte ich vorsichtig und hustete ein wenig. „Arnold, der war krank. Der konnte nichts schreiben“, beruhigte ihn Nago. Stelters kräuselte seine Augenbrauen, murmelte etwas Unverständliches und verschwand in der Menge. Lennart kam zur Tür herein.

„Hallo Lennart – du im Tele 5?“, rief ich ihm zu. „Ich war hier Stammgast – einer der treuesten.“ – „Wo ist denn Nika?“, fragte ihn Nago. „Die kann heute nicht.“ Lennart schaute versonnen auf einen Rock mit hohen Stiefeln. Nago stupste ihm in die Seite: „Für uns bitte zwei Weißweinschorlen.“ Lennart drängelte zur Theke. Als er die Getränke hatte, wandte er sich wieder in unsere Richtung, schaute dann zu dem Rock mit den Stiefeln, wieder zu uns, zuckte mit den Schultern, und drehte sich vollends weg. Nago und ich reckten die Köpfe. Der Rock mit Stiefeln war Mina, die Freundin von Arnold Stelters. Sie lächelte verzaubert, als Lennart ihr etwas ins Ohr flüsterte, und prostete ihm dann zu – mit meiner Weißweinschorle!

„Weil es eigentlich gar keine Treue mehr gibt!“, brummte Nago mit zugehaltener Nase. „Ich hole zwei Weißweinschorlen“, sagte ich.

Sebastian Hammelehle