Kein Sterben, kein Vergessen

Zombies der Geschichte und der Avantgarde: Unter Barbara Mundels neuer Intendanz wurde in Luzern Philippe Minyanas „Das Totenhaus“ uraufgeführt ■ Von Tobi Müller

Barbara Mundels erste Spielzeit am Luzerner Theater lief gerade mal sechs Wochen, als der theoretisch erweiterte Theaterbegriff der neuen Direktion bereits von einer realen Farce eingeholt wurde. Eine Lokalpolitikerin störte sich an Schlafsäcken und Nachthemden im „Freischütz“. Als Zeichen der Zeitgenossenschaft wäre eine „Lederhose oder etwa eine freche Bluse“ für die Brautjungfern noch drin gewesen, meinte die Liberale. So aber müsse die Stadt künftig im Spielplan mitreden dürfen. Wenig zuvor in Bern: Die neu eröffnete Nebenbühne des (äußerst braven) Stadt Theaters drohe zur „Experimentalbühne“ zu verkommen, mahnte abermals ein liberaler Stadtrat, weil Nicky Silvers „Fette Männer im Rock“ gespielt werde.

Erkannte Marx in der Farce immer die Wiederholung einer vorausgegangenen Tragödie, ist hier die Farce längst Wiedergängerin ihrer selbst. Das macht leicht im Kopf. Vergessen geht dadurch zum Beispiel die Tragödie, dass Peter Stein kurz vor seinem Schaubühnen-Start in Berlin aus Zürich fortgejagt wurde. Das ist dreißig Jahre her. Sind wir nun, karnevalesk die Tragödie verdrängend, bereit zur Revolution im Theater?

Bern hat sich nach dem nationalen Gelächter beruhigt, in Luzern hat man geredet und differenziert. Der Abonnentenschwund von satten zwanzig Prozent kann nicht allein Mundel angehängt werden, die Politik wurde des Wahlkampfes überführt, und überhaupt wartet man jetzt erst mal ab. Eine lustige Operette gab’s mittlerweile, eine schöne Oper auch. Und im Schauspiel macht die neueste Premiere ganz schön, aber böse auf Erinnerung. Nicht die Revolution ist das – die Mundel überdies nie ausrufen wollte –, nein, das ist die Erinnerung an die Revolution. An eine ästhetische allerdings: Die Uraufführung „Das Totenhaus“ des in Frankreich äußerst erfolgreichen Dramatikers Philippe Minyana koppelt Zeichen der historischen Theateravantgarde mit dem Gestus des Welttheaters. Puppen und Spieler aus der Berliner Ernst Busch Schule und Schauspieler nähern sich in Jarg Patakis Inszenierung einander an, um im vom Regisseur selbst übersetzten, dunklen Text doch für sich alleine zu bleiben. „Ich bin nur umgeben von mir selbst“, wimmert die Hauptfigur „Die Frau mit dem Zopf“ einmal, und ihre Mutter, die eigentlich „Die Frau mit der schwachen Stimme“ heißt, weiß, dass „die kreatur des lieben gottes wenn nicht aus bitterkeit“ aus gar nichts gemacht ist. Mies geht’s denen, aber wir sind gemeint, denn hier sehen wir Archetypen im endlosen Endspiel einer schlechten Welt.

Minyana gliedert seine „Sprechoper“ in einen Prolog, sechs Sätze und einen Epilog, erzählt darin die Geschichte der „Frau mit dem Zopf“ vom Mädchen zur uralten Frau und spickt seinen Reigen mit vereinsamten, nicht identischen Figuren (weshalb die meisten keine Namen tragen). Missbrauch durch den Vater, Gängelung vom Arbeitgeber, eine flüchtige Umarmung mit dem sterbenden Mann ihrer Wahl nur, der Gnadenschuss für den verzweifelten Sohn: So geht man im heimgesuchten Totenhaus durch die Geschichte, die nie aufhört. Es gibt kein Sterben, kein Vergessen, nur ein unablässiges Erinnern. Kein Wunder, möchten sich die Frauen am liebsten Heiner-Müller-mäßig zunähen und kriegt man als Zuschauer regelrechte Kastrationsgelüste.

Bereits im Prolog zitiert der Abend die historische Avantgarde und das Welttheater zugleich. Monströse Clowns sind kleine Wiedergänger aus Alfred Jarrys „König Ubu“, nicht nur weil ihre dunkel eingefärbten Vokale und ihr Krüppelsatzbau an die gängige deutsche Übersetzung dieses Bürgerschreckklassikers von 1896 erinnert. Hartmut Meyers Bühne stellt das Smiley-Logo auf den Kopf, sodass am oberen Rand, im folgerichtig nach unten gezogenen Maul, ein Puppengericht erscheinen kann, das ein Weltgericht spielt. Zum Schluss paradieren alle wie im Zirkus – es war ja nur ein Spiel.

Dann allerdings beginnt das Unheil zu regieren, als würde man eine Hardrockplatte rückwärts drehen und dem Antichrist persönlich lauschen. Der „Frau mit dem Zopf“ (Karin Römig) steht der Horror ins Gesicht geschrieben (was sie puppenähnlich macht), das antibürgerliche Theatergebet des Psychologieverzichts schwingt ewig in der skandierten, monotonen Rede mit. Patakis Inszenierung zeichnet die Figuren konsequent auf mehreren Ebenen: Gepanzerte Körperteile (Kostüme: Regina Grappmayr), die forciert autonom agierende Sprache, die Wunden durch eine lädierte Grammatik anzeigt, schließlich das zunehmend körperlich organisierte Spiel, all das will lineare Figurenpsychologie (und mit ihr das geschichtsmächtige Subjekt) vermeiden. Bei aller Sorgfalt und theoretischem Biss, wir hätten auch mit weniger heiliger Entschiedenheit zur Kunst – besonders in der mit der Zeit unerträglichen Sprechweise – gemerkt, dass es hier nicht um feinpsychologische Figurenausleuchtungen geht. Schade, denn da, wo Puppen auf Schauspieler treffen und erst noch kaum geredet wird, zeigt sich die magische Theaterpranke des im Grunde hochkarätigen Teams.

Der sonst etwas arg daseinsphilosophische Schrei bleibt dann fast stumm, dumpf, aber nachhaltig groovend in der Wiederholung. Etwa so, wie wenn der Musiker Malte Preuss wiederholt ein Sample einer springenden Nadel auf Vinyl einspeist. Ist das nicht schöner als eine rückwärtsgedrehte AC/DC-Platte?Dann allerdings beginnt das Unheil zu regieren, als drehte man eine Hardrockplatte rückwärts