„Ein Rädchen in einem großen Plan“

■ Vor zehn Jahren hat Pastor Uwe Holmer (70) die Honeckers bei sich zu Hause aufgenommen, obwohl er Gegner des DDR-Regimes war. Daraufhin hagelte es Bombendrohungen und Schmähbriefe. Aber noch heute schreibt Margot Weihnachtskarten

taz: Die Kirchenleitung war auf Sie zugekommen, ob Sie Honeckers in dem Pflegedorf „Hoffnungstaler Anstalten“ in Lobetal bei Berlin aufnehmen: Waren Sie überrascht?

Holmer: Ja. Die Angst war, dass eine Unterbringung Honeckers, der aus seiner Wandlitz-Villa herausgeflogen war, in einer kleineren Einrichtung gefährlich gewesen wäre. Man fürchtete, es könnte gestürmt werden.

Haben Sie lange mit Ihren Mitarbeitern darüber diskutiert?

Zwei, drei Stunden schon. Zuerst war ja die Überlegung, ihm einen Heimplatz zu geben, aber alles war belegt. Er war erst 11 Tage zuvor operiert worden und brauchte Hilfe. Deshalb haben wir ihn bei uns zu Hause aufgenommen. Für uns war die christliche Motivation zentral. Wir beten ja: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“

Welches Zimmer haben die Honeckers bekommen?

Die Jüngsten meiner zehn Kinder haben ihre Zimmer geräumt. Die waren 14 und 17 Jahre alt und fanden das interessant.

Hatten die Heimbewohner nichts dagegen, dass Honeckers jetzt im Dorf waren?

Nur am Anfang. Außerdem hat sich Honecker von sich aus sehr abgeschirmt. Nur abends habe ich mit ihm Spaziergänge um den See gemacht. Die Honeckers bewohnten zwei Zimmer und eine kleine Küche. Sie wollten eine kleine Miete auf dem DDR-Level zahlen.

War Honecker nett?

Er war zwar bitter und enttäuscht, da er kurz vorher aus der Partei geflogen war, aber insgesamt habe ich ihn als freundlich und sehr beherrscht in Erinnerung.

War das kein Problem, dass er ein Atheist war?

Nein, denn wir suchen als Christen ja auch die Nähe zu nicht gläubigen Menschen. Zudem haben wir – mit Ausnahmen – nicht über geistliche und politische Dinge gesprochen. Ich habe mit ihm über seine Haftzeit in Brandenburg während der Nazizeit geredet oder auch mal über seine Familie. Er war in ideologischer Hinsicht ein Gegner, nicht in menschlicher. Margot Honecker schreibt noch Weihnachtskarten – nur kurze, um ein Lebenszeichen zu geben.

Wie waren die Gespräche?

Man konnte sich mit ihm gut unterhalten. Richtig einsilbig und eisig reagierte er aber, als ich ihm sagte, ich hielte Gorbatschow für einen phantastischen Mann – da habe ich gesehen, dass man da nicht weiterkommt. Außerdem hatte uns sein betreuender Arzt gesagt, wir sollten Themen vermeiden, die ihn zu sehr aufregen. Nur noch eine Niere von ihm funktionierte zu einem Drittel. Bei zu viel Aufregung hätte der Blutdruck so stark steigen können, dass er gestorben wäre. Als ich ihm mal sagte, es sei kein Zufall, dass die Wiedervereinigung 40 Jahre gedauert habe, da in biblischer Sicht dieser Zeitraum eine Spanne der Besinnung sei, ließ er das so stehen.

Sie hatten ihm gegenüber keine Rachegefühle?

Zwar lebten meine Eltern und vier meiner Geschwister im Westen. Zudem konnte ich nicht zu meinem Vater, als er im Sterben lag, und meine zehn Kinder durften trotz sehr guter Noten nicht auf die Oberschule. Aber ich predige doch mein Leben lang, dass wir Liebe und nicht Hass üben sollen.

Honecker hatte doch schuld daran, dass Sie Ihre Eltern nicht sehen konnten.

Honecker war auch nur ein Rädchen in einem großen Plan. Am Ende war er zu ängstlich, die Mauer zu öffnen.

Sie haben in dieser Zeit viele Briefe bekommen.

Insgesamt 3.000, anfangs eher negative, später viele positive. Es gab auch 3 oder 4 Bombendrohungen. Bei der ersten haben wir das Haus geräumt, später hatten wir keine Angst mehr. Man hat Kraft, wenn man seinem Gewissen folgt.

Gehörten Sie zu DDR-Zeiten zu den Gegnern des Systems?

Ich befand mich geistlich in der Opposition. Zur Zeit der Kollektivierung hat mich die Partei mit Gefängnis bedroht. Ein Sohn durfte nicht an die Oberschule, da er die Internationale („Uns hilft kein höheres Wesen“) nicht mitsingen wollte und nicht bereit war, bei Wehrübungen zu schießen.

Wie war der Abschied von Honecker?

Das verlief menschlich und im gegenseitigen Respekt. Als ich dann die Nachricht von seinem Tod in Chile gehört habe, war ich bewegt. Ich habe es ihm jedoch langsam gegönnt, da er ja so krank war. Ich habe noch etwas Mitgefühl, dass Margot Honecker in Chile so allein ist. Sie vermisst Deutschland sehr.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung nach der Wende?

Früher waren wir theoretische Materialisten, heute sind wir praktische. Wir haben viele Werte wie Ehrlichkeit und Vertrauen verloren. Wir Älteren sollten unserer Jugend nicht nur Wohlstand, sondern auch innere Werte wie Liebe und Treue weitergeben.

Werden Sie noch heute auf diese Zeit angesprochen?

Es gab viele Anfragen von Journalisten, aber das geht jetzt hoffentlich mit diesem Datum zu Ende. Von anderen Leuten werde ich, etwa wenn ich Bibelwochen mache, ab und zu noch damit konfrontiert. Ich bin nicht durch mich selbst bekannt, sondern durch Honecker. Das ist wohl mein Schicksal. Ich habe die damalige Tat aber nie bereut.

Ist Honecker jetzt im Himmel?

Das glaube ich nicht – aber vielleicht gibt es ja auch eine Phase der Läuterung. Aber dazu will ich eigentlich nichts sagen: Das ist ein Urteil, das uns Menschen nicht zusteht. Interview: Philipp Gessler