: Zynismus, theoretisch
betr.: „Korruption, empirisch“, taz vom 24. 1. 00
Wenn Systemtheoretiker behaupten, dass Korruption nur ein Syllogismus für den Mechanismus der Schaffung von Verlässlichkeit und Vertrauen ist, kann nur ein „verkohlter“ Leser stillhalten, der sich an den allgegenwärtigen Zynismus gewöhnt hat. Der vorliegende wird durch den „utopischen“ Vorschlag N. Luhmanns, die moderne Gesellschaft nur dann „rational“ zu nennen, wenn sie es schafft, die aus den Systemlogiken ausgeschlossenen Individuen in den Systemen wieder vorkommen zu lassen, nur noch verschärft. Letztlich führt er dazu, dass die andere, personale Seite der Korruption – die passiv Bestechlichen, die als Amtsträger davon leben, u. a. Unbestechlichkeit versprochen zu haben – als aus der Systemlogik der rechtsstaatlichen Politik ausgeschlossene Individuen Anspruch auf unser Verständnis oder gar Mitleid hat, systemtheoretisch – empirisch gesehen natürlich! Ehrenwort! Roland Odermatt, Brühl
Na, da schau her: Man nehme „Korruption empirisch“ und herauskommt, was ich aus meinem Blickwinkel (moralisch) die „Freiheit des Betrugs“ genannt habe. [. . .] Das, „was wir Korruption nennen“ und als solche anprangern, ist nichts weiter als das, da stimme ich Dirk Baecker zu, was unsere kapitalistische Parteiendemokratie im Innersten zusammenhält.
Das, was wir dem entgegensetzen, ist schlichtweg nicht lebbar, denn es fehlt den reinen Systemlogiken an „Vertrauen und Verlässlichkeit über Vernetzung, Patronage und Klientelbildung“ – kurz: das System an sich hält kein Mensch aus. Daher versteht sich auch der eher verhaltene Ton der bürgerlichen Mehrheit.
Nun bin ich aber fernab davon, in etwa das „System Kohl“ oder ähnliche korrupte Netze verteidigen oder gar hoffähig machen zu wollen (wenn es das nicht bereits längst wäre!). Wir können, sofern wir noch einen Rest grundsätzlich linker Politiküberzeugung besitzen, uns nicht ernsthaft damit aufhalten, dass in einem Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, in dem die Milliarden der wenigen die Definitionsmacht innehaben, einige Millionen außerhalb des festgelegten Rahmens den Besitzer wechseln! Es gilt nun, die Widersprüchlichkeit eines Systems selbst zu kritisieren, in dem so oder so vieles nur für wenige möglich ist. [. . .] Wer im Ernst glauben will, bürgerliches Recht und bürgerliche Verfassung seien erschaffen worden, soziale Gerechtigkeit zu begründen, der sei erinnert, wie die bügerlichen Ideale seinerzeit in Frankreich eingeführt wurden: mit der Guillotine.
Lasst euch nicht wie Boris zum Teletubby der Konzerne machen – bleibt draußen! Es gibt ein Außerhalb im „Streit der Gesellschaft mit sich selbst“. Es entsteht, wenn aus kritischer Ökonomie wieder eine soziale Perspektive entsteht. Dazu braucht es auch eine Sprachkultur, die sich aus dem Würgegriff ökonomischer Interessen befreit. Verbleiben wir hingegen in der Sprache der Bosse, wird sich uns nie eröffnen, was unter „Korruption“ oder auch der „Freiheit des Betruges“ zu verstehen ist. Jost Guido Freese, Düsseldorf
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